Beklemmende Momente an der Leiblach
In Alfonsa Wiedemanns Kindheit führte der Lochersteig zu den österreichischen Nachbarn – Warum dann auf einmal Freundschaften zerbrachen
- Im kleinen Weiler Hubers, einem Ortsteil der Gemeinde Sigmarszell, ist Alfonsa Wiedemann aufgewachsen. Hinter dem idyllisch gelegenen Fäßlerhof begrenzen noch heute Wälder und Bachböschung den Blick, etwas weiter überragt der breite Pfänderrücken das Leiblachtal. Von daheim aus sah das Mädchen, das später oben auf diesem Höhenzug, in Lindenberg, leben sollte, jeden Tag ins nahe Österreich. Die Leiblach hatte für Alfonsa Wiedemann ganz unterschiedliche Bedeutungen: Mal war der Bach mit seinen Gumpen Spiel- und Badeplatz, mal die Verbindung zu neuen Freundinnen, mal die Hürde, die es bei lukrativen Botengängen zu überwinden galt. Eine Zeitlang aber erlebte sie den Fluss als Grenze zu Leuten, die ihr und den Ihren nicht wohlgesonnen waren.
Vor einem Jahr, im Alter von fast 89, hat Alfonsa Wiedemann ein Buch herausgebracht. „Jahre Zeiten. Mein Leben im Westallgäu“lautet der Titel. Eines der Kapitel hat die Lindenbergerin mit „Grenzerlebnisse“überschrieben. Diese Erzählung beginnt mit dem Jahr 1938, als Österreich dem „Großdeutsches Reich“genannten Nazi-Deutschland beitrat – und damit die Grenze überflüssig wurde. Auf einmal war die Welt jenseits der Leiblach für die siebenjährige Alfonsa problemlos erreichbar.
Die Menschen aus Hubers im Westallgäu und die aus Hörbranz in Vorarlberg pflegten laut Alfonsa Wiedemann einige Jahre „ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis“. Und der 300 Meter Luftlinie entfernt gelegene Gasthof Bad Diezlings war in dieser Zeit ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflüge. An manchem Nachmittag überquerte die Bauersfamilie Fäßler die Leiblach über den Lochersteig, passierte das österreichische Zöllnerhäuschen und erreichte so den Gastgarten, wo sie unter Kastanienbäumen Getränke bestellte. „Den Kuchen dazu durfte man selbst mitbringen“, erzählt Alfonsa Wiedemann.
Auch Fasching feierten die deutschen und österreichischen Nachbarn in Bad Diezlings gemeinsam, am Aschermittwoch trafen sie sich dort zum traditionellen Stockfischessen. Die kleine Alfonsa hatte nach vielen Besuchen Freundschaft mit den Zwillingsmädchen der Wirtsleute geschlossen. „Niemand außer ihrer Mutter konnte sie auseinanderhalten.“Dass mit dem Krieg auch manche Freundschaft ganz schnell vorbei war, ist für Alfonsa
Wiedemann noch heute schwer zu verstehen. „Ich glaube, die Leute wurden aufgehetzt“, vermutet die Seniorin.
Die Stimmung veränderte sich, nachdem im Mai 1945 die deutsche Wehrmacht kapituliert hatte. Die Republik Österreich gründete sich neu, ebenso das Land Vorarlberg, das unter den Nazis zum Gau Tirol-Vorarlberg gehört hatte. Nicht mehr gern gesehen waren im „Ländle“jetzt sogenannte „Reichsdeutsche“.
Alfonsa Wiedemann erinnert sich: „Viele Familien flohen mit Kinderwagen, Rucksäcken und Koffern über den Grenzfluss Leiblach.“Am Hof der Fäßlers hätten viele eine kurze
Mit dem Krieg endete auch manche
Freundschaft, erzählt Alfonsa Wiedemann. Manche riefen ihren
Nachbarn zu: „Hauet ab, ihr Minderwertige von deanat umer!“
Rast gehalten, um dann ihren Weg fortzusetzen zu Bekannten und Verwandten.
Auch die Leute aus Hubers, die früher in den Gumpen der Leiblach mit österreichischen Kindern gebadet hatten, erfuhren laut Alfonsa Wiedemann plötzlich Ablehnung vonseiten der Vorarlberger Nachbarn. „Ich höre noch heute, wie sie uns zugerufen haben: Hauet ab, ihr Minderwertige von deanat umer!“Ärger über die Beschimpfung scheint sie heute nicht mehr zu empfinden. Aber Bedauern: „Schade, wie schnell die Kontakte abgebrochen sind.“
Die Grenze war wieder geschlossen. „Das eiserne Tor vor der Brücke wurde verriegelt und darüber noch
Stacheldraht gespannt“, beschreibt Alfonsa Wiedemann die Veränderung am Lochersteg. „Zöllner bewachten rund um die Uhr die Leiblach. Alfonsa, ihrem Bruder Emil und den Eltern waren die deutschen Grenzer bald vertraut. Und doch wunderten sie sich eines frühen Morgens, als sie bei Beginn der Stallarbeit zwei Männer sahen, die aus einem Heuhaufen aufstanden und davonschlichen. „Es waren unsere Zöllner, denen die Nacht zu kalt und zu lang war, um stundenlang an der Leiblach zu patrouillieren.“Die Bauersleute konnten mit den Männern mitfühlen und machten ihnen ein Heubett zurecht. Als einmal ein Kontrolleur vom Zollamt auf dem Motorrad samt Beiwagen auf den Hof fuhr, warnte Alfonsa die Zöllner im Heu. „Ich öffnete eine kleine Tür, die hinten vom Stall ins Freie führte.“
Die Grenze bescherte Alfonsa Fäßler im Teenageralter so manches Taschengeld. Wie andere Jugendliche aus der Nachbarschaft schmuggelte auch sie Tabakwaren über die Leiblach. „Die waren in Österreich viel billiger“, erklärt sie. Natürlich habe sie gewusst, „dass das nicht ganz korrekt war“, räumt die heute fast 90-Jährige ein. Zugleich war das Schmuggeln von Zigaretten ein gängiges und zuweilen lukratives Geschäft für Leute im Grenzgebiet. Die junge und lebenslustige Alfonsa wollte sich mit dem so verdienten Geld „geheime Träume“erfüllen: Stoff für einen Petticoat und Nylonstrümpfe.
Dafür nahm sie ihren Mut zusammen und setzte sich immer wieder unheimlichen Momenten am Grenzfluss aus. „Am Tag zeigte sich die Leiblach freundlich plätschernd. Doch in der Nacht war der Fluss dunkel und lautlos. Nur ab und zu war ein Gurgeln zu hören.“Ihre Fantasie hat der Jugendlichen manchen Streich gespielt: In einem dick bemoosten Felsbrocken glaubte sie einen Bären zu erkennen, ein buckliger Baumstamm ragte wie ein großer Fisch aus dem Wasser, und ein Stück Treibholz glitt wie eine Wasserschlange an ihren Beinen vorbei, wenn sie durch den Bach watete. „Über allem lag eine düstere, fast beklemmende Stimmung.“Nach ihren Schmugglertouren eilte Alfonsa nass und frierend zum elterlichen Hof und huschte durch Rossstall und Brennerei ins Haus.
„Ich glaube, die Leute wurden aufgehetzt.“
„Die waren in Österreich viel billiger“
Alfonsa Wiedemann über Tabakwaren. Sie schmuggelte
wie viele andere Teenager Tabakwaren über die Grenze.
Alfonsa Wiedemann hat ihre Erinnerungen in einem Buch niedergeschrieben. Das Buch „Jahre Zeiten“ist im Verlag Via Verbis erschienen; 176 Seiten, Preis 19,95 Euro.