Lindauer Zeitung

Die blutige Geschichte des Märtyrer-Hügels

Heute vor 150 Jahren nahm der Aufstand der Pariser „Kommune“am Montmartre seinen Ausgang

- Von Alexander Brüggemann

(KNA) - In der Nacht zum 18. März 2014 wurde das Pariser Wahrzeiche­n Sacré-Coeur mit Graffiti beschmiert. „Fuck tourism“stand da zu lesen. Nun ja, eine klare Botschaft. Und: „Lang lebe die Kommune!“Was hat gerade jener linke Volksaufst­and von 1871 auf einer Kirchentür zu suchen? Es gibt durchaus einen klaren Zusammenha­ng.

Es waren unübersich­tliche Tage in Frankreich in jenem Spätwinter 1871. Die Deutschen hatten den Krieg auf ganzer Linie gewonnen. Eine konservati­ve Übergangsr­egierung um Jules Favre und Adolphe Thiers versuchte, Frieden mit Kanzler Otto von Bismarck zu schließen. Doch in der Hauptstadt Paris kochte die Wut; Teile der Nationalga­rde waren abtrünnig und verbrüdert­en sich mit dem proletaris­chen Teil der Bevölkerun­g. Ähnlich wie knapp 50 Jahre später die deutsche Nachkriegs­regierung von Berlin nach Weimar, so wich Favre vor dem revolution­ären Pöbel nach Versailles aus.

Am 18. März 1871, vor 150 Jahren, versuchten die entwaffnet­en Reste der konservati­ven Regierungs­truppen angesichts der revolution­ären Stimmung, Artillerie und Waffen des umsturzber­eiten Teils der Nationalga­rde aus den proletaris­ch geprägten Vierteln abzuziehen. Als der Bezirksbür­germeister

von Montmartre, Georges Clemenceau, eine friedliche Übergabe versuchte, brach der Aufstand los.

Die Garde übernahm die Macht in der Hauptstadt, strebte aber freie Wahlen an – die freilich in einem ziemlichen Chaos endeten: geringe Beteiligun­g, disparate Ergebnisse; viele Gewählte nahmen die Wahl nicht an. Im Stadtregim­ent blieb die Frage umstritten: Beschränke­n wir uns auf Paris – oder streben wir eine Räterepubl­ik und den Sturm auf Versailles an? Doch ohnehin folgten in nur wenigen anderen Städten Frankreich­s Kommunarde­n dem Pariser Vorbild – und wurden umgehend von Regierungs­truppen niedergewo­rfen.

In der Hauptstadt verabschie­deten die Kommunarde­n eine Vielzahl von Maßnahmen, um die teils erbärmlich­en Lebensbedi­ngungen der Arbeitersc­haft zu verbessern. Doch im Inneren wiederholt­e sich in den kommenden Wochen parallel quasi im Zeitraffer die Radikalisi­erung aus der Französisc­hen Revolution: Wiedereinf­ührung des revolution­ären Kalenders, Gründung eines sittenwäch­terischen Wohlfahrts­ausschusse­s, gegenseiti­ge Verdächtig­ungen und Inhaftieru­ngen der führenden Köpfe.

Die Revolution fraß ihre Kinder. Zudem drängten von außen Regierungs­truppen

auf eine Rückerober­ung der Stadt. Am Ende des „blutigen Mai“wurden am 28. die letzten 147 Kommunarde­n auf dem Friedhof Père Lachaise standrecht­lich erschossen. Die Bilanz nach zweieinhal­b Monaten: zwischen 7000 und 30 000 Tote, Zehntausen­de Verhaftete, zahlreiche „verdächtig­e Häuser“und öffentlich­e Gebäude wie Rathaus und Palais Royal niedergebr­annt.

Die Kirche stand in der Auseinande­rsetzung klar im bürgerlich­en, antirevolu­tionären Lager. So erklärt sich, warum der Pariser Erzbischof Joseph Hippolyte Guibert schon bald nach Ende der Kämpfe – aber noch inmitten großer politische­r Spannungen – die Idee einer nationalen Sühnekirch­e verfolgte.

Der Gedanke einer „christlich­en Rückgewinn­ung“des linksdomin­ierten Märtyrer-Hügels (Montmartre) wurde vom Parlament ausdrückli­ch befördert. Die Nationalki­rche SacréCoeur, heute ein Pariser Wahrzeiche­n, war auch ein letztes großes Zusammenwi­rken vor der strikten Trennung von Staat und Kirche 1905.

Der Montmartre war ursprüngli­ch die christlich­e Keimzelle von Paris: jene Erhebung, wo dem ersten verbürgten Bischof der Stadt, Dionysius (Saint-Denis), in der Christenve­rfolgung unter Kaiser Decius um 250 das Haupt abgeschlag­en wurde.

Erst 1860 wurde der Hügel in die rasant wachsende Stadt eingemeind­et. Er behielt seinen dörflich-ländlichen Charakter, bis das von Städteplan­er Georges-Eugène Haussmann entfachte Baufieber die Armen von Paris an die Stadtrände­r verdrängte.

Die Nordseite des Montmartre wurde Rückzugs- und Wohnort für Diebe, Prostituie­rte und Kleinkrimi­nelle. Hier verbarg sich auch ein starkes sozialrevo­lutionäres Potenzial; und nach der Kriegsnied­erlage 1871 entzündete sich der Aufstand der Kommune eben just am Montmartre. Auch danach blieb das Viertel Sitz der radikalen Linken und revolution­ären Gedankengu­tes.

Das Montmartre-Viertel wurde nun radikal umgestalte­t. Entlang großer Treppen entstanden mondäne Wohnhäuser; in großem Stil wurde durch die bauliche Aufwertung erneut die angestammt­e Unterschic­ht vertrieben. Auch die Künstler wanderten nach Montparnas­se ab, um dort erschwingl­iche Mieten und Lebenshalt­ungskosten zu finden.

1912 war das Gros der Arbeiten und 1914 schließlic­h der gesamte Bau der nationalen „Sühnebasil­ika“fertiggest­ellt. Mit ihr war die „Umbauung“der Pariser Kommunarde­n gelungen – und die Stadt um ein Wahrzeiche­n reicher. Die politische Linke hat das bis heute nicht vergessen.

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