Das gestürzte Genie
Einstiger Stardirigent James Levine im Alter von 77 Jahren gestorben
(dpa) - Für die einen war James Levine eine schillernde Figur der amerikanischen Klassikwelt, für die anderen ein sexuell übergriffiger Machtmensch. James Levine starb, wie erst jetzt bekannt wurde, bereits am 9. März im Alter von 77 Jahren.
Wenn James Levine zum Taktstock griff, stand nach Ansicht von San Franciscos früherem Operndirektor David Gockley eine Art Götterdämmerung bevor – selbst wenn Richard Wagners „Ring“an dem Abend nicht auf dem Programm stand. „Er ist kein gewöhnlicher Dirigent“, sagte Gockley 2011 über Levine, den einstigen Stardirigenten der New Yorker Metropolitan Oper und der Münchner Philharmoniker. „Er ist ein Gott.“
Übermensch oder nicht: Levines Einfluss auf die amerikanische Klassikwelt war enorm. Nach seinem langen Aufstieg war Levine zum Abschluss seiner Karriere tief gefallen: Mindestens neun Männer beschuldigten ihn der sexuellen Übergriffe. Die Metropolitan Opera, deren Weltruhm Levine als Chefdirigent zementiert hatte, entließ ihn 2018. Er wurde zum bis dahin ranghöchsten Vertreter der Klassikszene, der im Zuge der #MeToo-Bewegung seinen Job verlor. Nach seinem Rauswurf überzogen sich das Opernhaus und der Dirigent gegenseitig mit Klagen.
All das schien fast undenkbar, als der gelockte Klaviervirtuose aus Ohio 1953 mit dem Cincinnati Orchestra sein Debüt als Dirigent feierte. Sein erweitertes Handwerk lernte er bei Klavierpädagogin Rosina Lhévinne und an der Juilliard School in New York. Der ungarische Dirigent George Szell holte ihn zum Cleveland Orchestra, wo er von 1965 bis 1972 auch am Cleveland Institute of Music (CIM) lehrte. Aus dieser Zeit und bis 1999 reichen die Vorwürfe
mehrerer Männer. Die Details, die der „Boston Globe“nach Gesprächen mit mehr als 20 Studenten und Ex-Kollegen Levines aufdeckte, waren erschreckend. Wie in einem Kult soll Levine seine als „Leviniten“bekannten Verehrer in Cleveland um sich versammelt und ihnen vorgeschrieben haben, „was sie lesen, wie sie sich anziehen, was sie essen, wann sie schlafen – sogar, wen sie lieben“.
Rund 40 Jahre war die Met im Herzen Manhattans das künstlerische Zuhause des Dirigenten. Seine offene, vereinnahmende Art schimmerte auch bei Proben mit dem Orchester durch. Vor Publikum dirigierte er dann mit der Effizienz eines Managers.
Zum 25. Jubiläum seiner ersten Met-Aufführung feierte ihn das Opernhaus mit einer Fernsehgala. Sein Repertoire umfasste Bach und Haydn, aber auch unbekanntere Namen wie den französisch-griechischen Komponisten Iannis Xenakis. Partituren interpretierte Levine auf lebendige, klare und geradlinige Weise.
Bei den Salzburger Festspielen dirigierte Levine Mozart, in Bayreuth machte er sich als Wagner-Kenner einen Namen. Mit ausgedehnten Konzerttourneen festigte er den Namen der Met in Zeiten, als die Amerikaner zwar für Pop oder Jazz, aber seltener für grandiose Klassik bekannt waren. Seine Arbeit bei der Met sah er als Vollzeitjob, wenngleich er von 1999 bis 2004 zugleich Chefdirigent der Münchner Philharmoniker war. Bei der Met dirigierte Levine mehr als 2500 Aufführungen von 85 Opern. Nur gelegentlich trat er parallel als Pianist auf.
Gesundheitliche Beschwerden – Levine dirigierte zuletzt im Rollstuhl mithilfe zweier Assistenten – kamen in seinen letzten Lebensjahren als Belastung hinzu. Sein letzter Auftritt an der Met war im Dezember 2017, 46 Jahre nach seinem Debüt dort.