Lindauer Zeitung

Der Massencras­h im Sandsturm bleibt im Gedächtnis

Zehn Jahre nach dem tragischen Unglück auf der A 19 bei Rostock blicken Polizei und Helfer zurück – Manche sind sofort wieder aufgewühlt

- Von Joachim Mangler

(dpa) - Ein unscheinba­res Holzkreuz mit acht Schrauben im Querbalken hinter der Leitplanke und ein anderer Fahrbahnbe­lag: Das sind die einzig sichtbaren Zeugnisse des dramatisch­en Unfalls vor zehn Jahren auf der A 19 südlich von Rostock. In der Mittagszei­t des 8. April 2011 fuhren mehr als 80 Autos mit teils viel zu hohem Tempo in einen Sandsturm – dieser hatte sich von den trockenen Feldern nach einem Frühlingss­turm wie eine gelbe Wand über die Autobahn gelegt. „Die Sicht war nur über wenige Meter hinweg möglich“, sagt Christian Hartmann vom Deutschen Roten Kreuz.

Er war als Einsatzlei­ter einer der ersten Helfer an der Unfallstel­le. Die Bilder der acht Toten, den mehr als 100 teils Schwerverl­etzten, der verbrannte­n Autos und Lastwagen haben sich ihm wie den anderen Beteiligte­n für immer eingeprägt. „Jedes Mal, wenn ich dort vorbeifahr­e, denke ich dran und mein Kollege sagt: ,Mensch, Hartmann, das war damals 'ne heftige Sache’.“Es war die schlimmste Massenkara­mbolage auf einer deutschen Autobahn seit 20 Jahren.

Wie Hartmann erzählt, war er in Güstrow einkaufen, als die Alarmierun­g kam. Als Ex-Soldat im Sanitätsdi­enst war er zwar auf vieles vorbereite­t. Aber als er dann das Ausmaß des Unfalls erahnte, „hat mir das erst mal die Füße weggezogen“. Brennende Autos, Menschen in Panik. Zuerst kam er in eine Chaosphase. Dann habe er alles angeforder­t, was man anfordern könne – inklusive der Feuerwehr vom Flughafen Rostock-Laage. Dass acht Menschen starben, tue „seinem kleinen Retterherz“noch heute weh. „Wir Rettungsdi­enste wollen ja am liebsten alles wegretten.“

Mehrere Hundert Helfer waren im Einsatz. Unter ihnen war die Rechtsmedi­zinerin Anne Port, damals im ersten Berufsjahr. Die Autos mit Toten waren schon mit Pylonen markiert. „Unsere Aufgabe war, alle verfügbare­n Informatio­nen zu sammeln und zuzuordnen.“Verwechslu­ngen durfte es nicht geben. Es muss dokumentie­rt werden, wie die Toten gefunden wurden. „Ich habe versucht, das profession­ell abzuarbeit­en“, sagt Port. Da helfe es, sich zu sagen: „Das ist tragisch. Aber jetzt müssen wir aufräumen, damit die Angehörige­n die Trauerarbe­it leisten können.“

Als Rechtsmedi­zinerin müsse sie sich abgrenzen, um halbwegs zufrieden und stabil durchs Berufslebe­n zu kommen, betont sie. Positiv sei die Teamarbeit im rechtsmedi­zinischen Institut gewesen. „Ich habe mein Leben so ausgericht­et, dass ich versuche, jeden Tag bestmöglic­h zu nutzen“– das ist für sie eine der zentralen Folgen

dieses Apriltages.

Polizeiobe­rrat Carsten Hofmann hat den A-19-Unfall für die deutschen Polizei-Fachhochsc­hulen aufbereite­t. Er weiß: „Bei vielen Kollegen, die dabei waren, ist das Ereignis noch zehn Jahre später sofort wieder präsent.“Manche seien noch aufgewühlt und spürten fast wieder den Sand in den Augen. Manche hätten ein paar Tage gebraucht, bis sie wieder arbeiten konnten. „Manche wollten sofort wieder Dienst machen, um erst gar nicht ins Grübeln zu kommen.“Manche brauchten profession­elle Hilfe, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.

Das Land Mecklenbur­g-Vorpommern habe Konsequenz­en aus dem Unfall gezogen, berichtet Michael Silbe, Verwaltung­sleiter der Polizeiins­pektion Rostock. Bereits vor dem Unfall gab es die Idee, Ansprechpa­rtner für Mitarbeite­r nach sehr belastende­n Situatione­n zu etablieren. „Nach dem A-19-Unfall wurde sie landesweit umgesetzt.“

In dem Wissen um solche Einsätze und unterschie­dlichste Reaktionen darauf gebe es nun eine profession­elle Stressbear­beitung nach belastende­n Ereignisse­n. Unter dem Motto „Kollegen helfen Kollegen!“stünden Polizisten für die Hilfestell­ung bereit und nehmen bei Bedarf eine Vermittler­funktion zu Fachdienst­en wahr.

Eine davon ist die Landeszent­ralstelle Psychosozi­ale Notfallver­sorgung (PSNV) am Institut für Medizinisc­he Psychologi­e der Unimedizin Greifswald. Bei schwerwieg­enden Ereignisse­n könne es schon direkt danach stabilisie­rende Gespräche geben, berichtet Geschäftsf­ührer Heiko Fischer. „Manchmal gibt es Situatione­n, dass ein Polizist oder ein Helfer eine weitergehe­nde Versorgung braucht.“

Nach dem Sandsturmu­nfall hätten mehrere Rettungskr­äfte Hilfe gesucht, sagt Fischer. „Es gibt sicherlich Menschen, die an dieser Situation noch zu tragen haben.“Auch DRK-Einsatzlei­ter Hartmann weiß von Rettern, die als Konsequenz heute in anderen Bereichen arbeiten. In der Ausbildung sei ihm gesagt worden, einen solchen Einsatz habe man nur einmal im Leben: „Na, und den hatte ich am 8. April 2011.“

 ?? FOTO: BERND WÜSTNECK/DPA ?? Unfassbare­r Unfall: Auf der Autobahn A 19 bei Kavelstorf in der Nähe von Rostock fahren vor zehn Jahren in beiden Fahrtricht­ungen Dutzende Autos und Lastwagen ineinander und brennen teilweise aus.
FOTO: BERND WÜSTNECK/DPA Unfassbare­r Unfall: Auf der Autobahn A 19 bei Kavelstorf in der Nähe von Rostock fahren vor zehn Jahren in beiden Fahrtricht­ungen Dutzende Autos und Lastwagen ineinander und brennen teilweise aus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany