Geringe Chance auf Heimat
Ein Äthiopier steht vor Gericht, weil er keinen Pass hat – Warum Prozesse wie dieser die Integration verhindern
- Der Angeklagte versucht angestrengt und mit zugekniffenen Augen den Worten des Richters Moritz von Engel zu folgen – denn er entscheidet an diesem Tag, ob der 31jährige Äthiopier eine Zukunft in Deutschland hat. Manchmal antwortet der Angeklagte dem Richter selbst, häufig muss er jedoch seinen Übersetzer um Hilfe bitten. Denn der Äthiopier muss erklären, warum er sich nicht ausweisen kann. Wie dem jungen Mann aus Lindau, geht es etlichen Geflüchteten in Deutschland, die angeklagt werden, weil sie keinen Pass besitzen – dabei haben sie häufig kaum Chancen, Papiere zu besorgen. Die Gerichtsprozesse zwingen viele dazu, ihre bisherige Arbeit und Bindung aufzugeben.
Der 31-Jährige ist 2015 aus Äthiopien nach Deutschland geflüchtet, hat sich mit seiner Frau im Landkreis Lindau niedergelassen und eine Ausbildung als Landschaftsgärtner angefangen. Sein Arbeitgeber sitzt ebenfalls im Gericht, während der Verhandlung schüttelt er immer wieder konsterniert den Kopf. Seinen hilfsbereiten Mitarbeiter will er unbedingt behalten. Dem könnte diese Verhandlung jedoch zum Verhängnis werden. „Bei einer Verurteilung wird es für meinen Mandanten schwierig, sich in Deutschland legal aufzuhalten“, sagt sein Verteidiger Udo Sürer mahnend zu Richter von Engel.
In Deutschland werden vor allem Geflüchtete wegen des Vergehens gegen die Ausweispflicht angezeigt, deren Asylantrag abgelehnt wurde, und die sich in der Duldung befinden – die also kein Bleiberecht haben, aber nicht abgeschoben werden können. „Entsprechende Strafbefehle, die ohne einen Einspruch wie ein rechtskräftiges Urteil wirken, häufen sich in letzter Zeit“, sagt Udo Sürer nach der Verhandlung im Gespräch mit der LZ. Viele der angeklagten Geflüchteten würden einen Prozess scheuen, „die zahlen die Geldstrafe und nehmen eine Vorstrafe in Kauf, dabei würde die nach einem Einspruch vorgeschriebene Verhandlung zum Freispruch führen.“
Das habe auch etwas mit der oberflächlichen Arbeit der Behörden zu tun, sagt Sürer. An Stelle von gründlichem Aktenstudium und weiteren Ermittlungen, schicken sie lieber den nächsten Serienbrief, ist sein Eindruck.
Das verunsichert Geflüchtete wie den 31-jährigen Äthiopier unnötig. Unterstützung, wie die Zuwanderer alle nötigen Papiere sammeln können, gebe es nicht, sagt Sürer. Zu dieser schlechten Kommunikation kommt hinzu, dass viele Geflüchtete erst einmal verunsichert sind, wenn sie aufgefordert werden, einen Pass zu beschaffen. Denn sobald sich ein Geflüchteter im Duldungsstatus ausweisen kann, kann er auch abgeschoben werden.
Ein Dilemma: Wenn die Geflüchteten versuchen, ihre Pässe zu besorgen, droht die Abschiebung. Wenn sie versuchen, die Identifikation zu umgehen, drohen Arbeitsverbot und weitere Nachteile. Zwar will Udo Sürer den Behörden nicht vorwerfen, sie würden Pässe von den Geflüchteten einfordern, um sie dann direkt abzuschieben, doch: „Die Gesetzeslage setzt seit 2020 den Schwerpunkt auf Abschiebung statt Integration, selbst wenn diese bereits gelungen ist.“Das bestätigt Hilmar Jobst von der Asylkontaktgruppe Lindau: „Seit einiger Zeit ist die Ausländerbehörde in Lindau deutlich restriktiver.“Das liege nicht am Landratsamt selbst, sondern an der strengen Linie
ANZEIGE der Innenminister. Trotz der Gefahr, durch den Pass abgeschoben zu werden, wollen viele Geflüchtete Papiere besorgen, weiß Abdi Nur – „für einige ist das aber eine schier unmögliche Aufgabe“. Abdi Nur flüchtete 2002 von Äthiopien nach Deutschland, hat einen Aufenthaltstitel, lebt in München und unterstützt mit seinem Verein Geflüchtete der ethnischen Gruppe Onomo aus Äthiopien. Er erklärt, warum viele ohne Ausweise nach Deutschland kommen und Probleme haben, einen zu beschaffen.
In Äthiopien gebe es kaum eine funktionierende Verwaltung, sagt Nur, „nicht einmal Geburten werden anständig registriert“. Es sei zwar möglich einen Pass zu beantragen, „aber nur mit Schmiergeld“. Die Botschaften und Konsulate helfen meistens nicht, sagt Nur, „die Rechtslage ist kompliziert, viele Botschaften können gar nichts machen. Andere interessiert es auch einfach nicht.“Diese Zustände lassen sich auf viele weitere Staaten übertragen, aus denen Geflüchtete kommen, sagt Nur, „aber die Behörden hier wollen nicht akzeptieren, dass diese Verwaltungen im Vergleich zu Deutschland im
Mittelalter stecken“. Von Seiten der Behörden werde einfach nur Druck ausgeübt, sagt Nur. Er, aber auch Udo Sürer fordern, den Geflüchteten weniger Drohungen auszusprechen und stattdessen auf die individuelle Lage der Personen einzugehen.
Zwar könnte man argumentieren, dass geduldete Flüchtlinge laut Gesetz eben unrechtmäßig in Deutschland sind. Das Problem, auf das Sürer und Nur aufmerksam machen wollen, ist aber ein anderes: Geduldete bleiben oft jahrelang im Land und warten auf eine Perspektive, sind aber von Integrationsangeboten ausgeschlossen. Die Strafverfolgung wegen fehlender Pässe nehme den Geflüchteten erst recht die Chance Fuß zu fassen, erklärt Nur. Einige würden untertauchen oder kriminell werden, obwohl sie auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben waren.
In Lindau passierte das beispielsweise dem Geflüchteten Charles Cocouvi, den die LZ über mehrere Jahre begleitete. Cocouvi wurde von den Behörden unter Druck gesetzt, seine Ausbildung als Koch erst dann fortsetzen zu können, wenn er seine Identität nachweist. Es folgte ein Strafbefehl und seine Flucht – nach
Frankreich, vermutet seine frühere Chefin Alexandra Gerstmayr. Auch sie ist sich damals sicher: Der Grund, warum Cocouvi Lindau und seinen Job verlassen hat, waren die Drohungen der Behörden.
Zurück im Amtsgericht Lindau: Dort wird der zuständige Sachbearbeiter der Ausländerbehörde in den Zeugenstand gerufen. Zuvor hatte Verteidiger Udo Sürer dem Richter Dokumente überreicht, die beweisen, dass der Angeklagte dreimal versucht hat, seinen Pass bei der äthiopischen Botschaft zu beantragen – dafür ist er sogar nach Frankfurt und Berlin gefahren.
Ob der Sachbearbeiter von diesen Versuchen wisse, die der Angeklagte unternommen hat, will Richter Moritz von Engel wissen. Der Mitarbeiter des Landratsamtes kramt in seinen Unterlagen und sagt: „Ja, das habe ich auch vorliegen.“Von Engel stockt: „Dann hätte diese Verhandlung eigentlich gar nicht stattfinden müssen.“Der Richter entscheidet, dass es derzeit an der äthiopischen Verwaltung liege, dass der Angeklagte keinen Pass hat, nicht an ihm selbst. Ein Freispruch, doch die Unsicherheit bleibt.