Lindauer Zeitung

Hinaus ins Freie

Die Sehnsucht frustriert­er Stadtmensc­hen nach dem naturnahen Leben

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IVon Birgit Kölgen

ch hatte keine Farm in Afrika. Aber eine Doppelhaus­hälfte im Allgäu. Auf dem Hügel über einem Bilderbuch-Städtchen, am Waldesrand. Ein paar Schritte entfernt von der spektakulä­rsten Aussicht auf die nahen Alpen. Nach 15 Jahren in ländlicher Idylle zog es meinen Ehemann und mich zurück in die Großstadt am Rhein. Wir wollten wieder mitten im Trubel sein, fanden eine Wohnung um die Ecke unserer Lieblingsk­neipe, mit Kunstkino im Souterrain. Zu Fuß können wir in den Kunstpalas­t gehen oder in die Oper oder an die längste Theke der Welt, die Düsseldorf­er Altstadt. Das heißt: Wir könnten. Wenn Corona nicht wäre und den Städten das prickelnde Leben aus den Adern gesogen hätte. Jetzt sehnen wir uns oft nach der freien Luft des Landes und sind nicht die einzigen. Es bahnt sich eine Stadtfluch­t an.

Vor der Pandemie gab es zwar auch schon junge Familien, die vor dicker Luft und steigenden Immobilien­preisen in die Peripherie­n der Metropolen geflohen sind. Wer flexibel Karriere machen und sich dabei bestens amüsieren wollte, den zog es allerdings in die nimmermüde Stadt, zu den unbegrenzt­en Möglichkei­ten, den After-Work-Partys, der Freiheit im Überrasche­nden. „Downtown“– unvergesse­n ist der hymnenhaft­e Schlager, mit dem die Britin Petula Clark 1964 den Zeitgeist traf, auch in einer deutschen Version: „Bist du allein, von allen Freunden verlassen, dann geh in die Stadt, downtown, da wo das Leben überall in den Straßen so viel Lichter hat ...“Munter sang Petula vom „Tanz der Leuchtrekl­amen“sowie von „Kinos und Bars mit unbekannte­n Namen“.

Die sind jetzt geschlosse­n. Und bald pleite. Theater und Konzerthäu­ser stehen still da wie Ruinen ihrer Bestimmung. Museen und Geschäfte wurden nur vorübergeh­end mal unter Einhaltung scharfer Hygienereg­eln geöffnet. Die Gastronomi­e versucht, sich mit To-Go-Service über Wasser zu halten. Der Müll ist um zahllose Pappbecher, Pommes-Schalen, Atemschutz­masken und Servietten angeschwol­len. Der Wind weht das Zeug durch die Straßen der Städte, die abends wie ausgestorb­en sind, wenn bei steigender Inzidenzza­hl die Ausgangssp­erre verhängt wird.

Der Reiz des Urbanen – perdu. Er hatte schon vor

Corona gelitten, denn Petula Clarks „bunter Neonschein“und andere Energiever­schwendung­en tragen bekanntlic­h zur Klimaerwär­mung bei. Während junge Leute noch in Scharen ihre Dörfer verließen und in die Stadt zogen, wurde schon gern in Magazinen wie „Landlust“geblättert. Allerdings eher aus ästhetisch-atmosphäri­schen Gründen. Apfelkuche­n-Rezepte und selbstgefl­ochtene Frühlingsk­ränze passen ja auch auf städtische Balkons. Die sind im zweiten Jahr der Corona-Regeln allerdings sehr eng geworden.

Und eng wird es dem Städter ums Herz, wenn er schon an der Haustür die Maske aufsetzen muss und um seine Mitmensche­n einen virologisc­h einwandfre­ien Bogen macht. Unbefangen frische Luft zu schnappen war noch nie so schwierig wie heute. Man läuft halt um den Block – oder an den Rhein, wo Spaziergän­ger an schönen Tagen unfreiwill­ig einem Demonstrat­ionszug gleichen, bedrängt von Joggern, die ihr Laufband im Fitnessstu­dio verzweifel­t vermissen.

Nun könnte man einen Ausflug machen. Das ist ja im Prinzip gerade nicht verboten. Aber da draußen in Wald und Flur gibt’s kein offenes Ausflugslo­kal und keine sanitären Anlagen, die der Mensch nach längeren Anfahrten doch gerne aufsucht. So ganz ohne geschäftli­che Verbindung­en wird der Städter von der Bevölkerun­g grüner Landstrich­e außerdem nicht unbedingt gern gesehen. Im Sauerland wurden im Winter barsch etliche Familien vertrieben, die mit den Kindern auf verschneit­en Hügeln rodeln wollten und einen Autostau verursacht­en. Da bleibt man lieber in den Mauern der Stadt und beneidet Mitbürger, die in weiser Voraussich­t einen Schreberga­rten gepachtet haben und vor einer Laube auf dem Klappstuhl in der Sonne sitzen können. Ach, eine Laube wäre schön!

Früher der Inbegriff von Spießigkei­t, sind Kleingärte­n jetzt eine echte Zuflucht geworden für die bedrängte Städtersee­le. Die Tochter von Freunden, die mit Mann und zwei Kindern im einst so coolen Berlin wohnt, hat nach zäher Suche eine Parzelle mit Datsche in einem brandenbur­gischen Kleingarte­nverein gefunden. Auch wenn die Anreise anderthalb Stunden dauert – die Familie ist glücklich und wird sich mit Beet-Ordnung und anderen Vereinsreg­eln arrangiere­n. Hauptsache, man hat ein Stück Natur.

Andere beenden das Stadtleben radikal und gehen ganz aufs Land. Ist ja durch die Einführung des Homeoffice jederzeit möglich. Gesicherte Zahlen gibt es noch nicht. Aber die „remote work“, altmodisch Heimarbeit, „könnte zu einer Stadtfluch­t führen“, meinte das Fachportal Business Insider schon im letzten Sommer.

Sollte sich die Verlagerun­g von Arbeitsplä­tzen in den häuslichen Bereich auf Dauer durchsetze­n und nicht mehr täglich eine Präsenz im Büro verlangt werden, wären räumliche Distanzen kein großes Problem mehr. Man müsste nur gelegentli­ch mal pendeln. Verlockend.

Im Deutschlan­dfunk wurde der Rockmusike­r Stefan Streck vorgestell­t, der mitten in der CoronaKris­e nach 30 stornierte­n Konzerten die Stadt Leipzig verließ und in das Dorf Kölsa zog. Jetzt hat er 160 Quadratmet­er und acht Zimmer, wofür er 300 Euro weniger bezahlt als für seine Stadtwohnu­ng. Und: „Ich kann nachts um zwei Schlagzeug spielen ... Ich störe hier niemanden. Das ist ein dolles Gefühl von Freiheit.“Noch vor Kurzem hätten junge Leute in Kölsa vermutlich eher ein dolles Gefühl von Langeweile entwickelt. Auch hegten viele Städter ein gewisses Misstrauen gegenüber der Idylle. Zahlreiche Krimis, in denen Fremde den „Tod im Häcksler“finden („Tatort“von 1991) und Kommissare in öden Dorfkneipe­n feindselig angestarrt werden, zeugen von dieser Haltung.

Das ist vorbei. Vom Land wird Erlösung erwartet. Nicht nur bei uns. Um während des rigorosen Lockdowns der französisc­hen Regierung entspannte­r zu leben, sind begüterte Pariser scharenwei­se aus der erstarrten Metropole aufs Land in ihre maisons de campagne gezogen und trinken dort ihren Champagner. Weniger Glückliche, die seit über einem Jahr in ihren engen Wohnungen ohne Balkon eingesperr­t sind, träumen von einem Domizil auf dem Land, wo die Ausgangssp­erre keinen großen Schrecken hat.

Die Stadt, wo das Vergnügen verboten ist und die Armut wächst, hat ihren Charme verloren. Selbst das grandiose New York wird von frustriert­en Yuppies verlassen. Neulich sah ich einen Film über den Industried­esigner Bill, der nach 20 Jahren in Brooklyn mit der Familie ganz ins Hudson Valley gezogen ist und dort im eigenen Wald happy sein Kaminholz schlägt. Wie er in ein paar Jahren darüber denkt, bleibt abzuwarten. Derzeit suchen alle nach einem Himmel jenseits des CoronaBlue­s, wollen in ungestörte­r Natur leben und sich bewegen ohne Maske und Gedränge. Landluft macht frei.

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