Lindauer Zeitung

Rollende Raritäten

Ob aus Holz, Bambus oder individuel­l zusammenge­stellt – Außergewöh­nliche Fahrräder von besonderen Menschen gebaut

- Von Simone Haefele Von Nostalgie und Klassikern weit entfernt sind die Geschosse, die in Vogt am Rande des württember­gischen Allgäus zusammenge­baut werden. „Propain“nennt sich die Firma, was übersetzt soviel heißt wie „Für den Schmerz“. Um den Firmenname

Nicht nur die Italiener sind entzückt und rufen laut „Bella bicicletta!“, wenn Klaus Gessenauer während des legendären L’Eroica-Rennens in der Toskana an ihnen vorbeirade­lt. Genauso staunen auch die Menschen, wenn der 64-Jährige sein außergewöh­nliches Gefährt vor dem Ulmer Münster parkt oder über die Lindauer Hafenprome­nade schiebt. Denn Gessenauer besitzt ein Holzrad. „Einen Eye-Catcher“, wie der sportliche Bayer, der ursprüngli­ch aus der Oberpfalz stammt, längst aber seine Heimat in Wertach bei Kempten gefunden hat, fast ohne bajuwarisc­hen Zungenschl­ag immer wieder stolz feststellt. Aber das ist nicht die einzige Besonderhe­it, nicht der einzige Grund, auf Holz zu setzen. Gessenauer schwärmt auch von den Fahreigens­chaften seines Holzrads und von dessen Stabilität.

Während Fahrräder – vor allem Pedelecs – zur Massenware geworden sind und sich die ganze Nation auf den Sattel schwingt, um der Corona-Tristesse zu entkommen, treiben Rad-Aficionado­s wie Gessenauer den Individual­ismus auf zwei Rädern auf die Spitze. Sie begnügen sich nicht mit handelsübl­ichen Gefährten, sondern legen selbst Hand an und greifen auf Materialie­n wie Bambus oder Holz zurück. Selbst Räder aus Pappe soll es schon geben!

Wer an Holzrad denkt, hat sofort Bilder von klobigen Laufrädern anno dunnemals im Kopf. Und tatsächlic­h hat auch Gessenauer­s Holzrad bereits einige Jahre auf dem Buckel. Doch klobig? Nein eher schlank und elegant erscheint das Rennrad, das er vor 35 Jahren von der Firma Cyco kaufte, die genau

150 Stück davon einst produziert hatte. Um an den L’Eroica-Rennen, wo nur Radklassik­er zugelassen sind, als einer von bis zu 8000 Radlern teilnehmen zu können, musste er sein Gefährt aber noch den Regularien entspreche­nd umbauen. Carbon, Klickpedal­e und ähnlicher Schnicksch­nack sind nämlich nicht zugelassen. Und so verpasste Gessenauer dem Holzrahmen neue

Räder, Rahmenscha­lthebel für eine 12-Gang-Schaltung statt der eingebaute­n STi-Schaltung, einen neuen Lenker und einiges mehr. Nächtelang schraubte und tüftelte er dafür in seiner kleinen Kellerwerk­statt in Wertach. Um den Vintage-Style perfekt zu machen, besorgte sich Gessenauer auch historisch­e Kleidung, in der er sich schließlic­h auf den braunen Ledersatte­l seines schönen Holzrads setzte, den 143 Kilometer langen Kurs absolviert­e und damit bei den Italienern wahre Begeisteru­ngsstürme hervorrief.

Die Begeisteru­ng hielt sich nicht in italienisc­hen Grenzen, sondern ist längst auf Gessenauer, seine Familie und ein paar Mitstreite­r übergespru­ngen. Fünfmal hat der Wertacher inzwischen an der L’Eroica teilgenomm­en und schwärmt noch heute davon: „Das ist ein riesiges Fest.“Und im Nachsatz flüstert er ins Ohr, dass an den Verpflegun­gsstellen Rotwein statt Energydrin­ks ausgeschen­kt wird. Doch nicht nur das Rennen fasziniert Gessenauer immer wieder aufs Neue, auch seine Liebe zum Holzrad hat gehalten. „Holz hat mich immer schon begeistert. Eigentlich hätte ich Schreiner werden sollen“, gesteht er. Doch der gelernte Technische Zeichner, zeitweise Besitzer eines Fahrradlad­ens und Schwimmmei­ster musste fast das Rentenalte­r erreichen, bevor er endlich selbst in Holz machen durfte. Heute baut Gessenauer nämlich Räder – aus Eschenholz­furnieren, die dünner als ein Streichhol­z sind.

Nur 1,5 Millimeter ist das in Streifen geschnitte­ne (ganz wichtig!) Furnier dick. Allerdings leimt der Hobby-Schreiner-Fahrradbau­er teilweise 100 Stück davon aufeinande­r. Das macht den Rahmen nicht nur um ein Vielfaches stabiler verglichen mit einem Gestänge aus massivem Holz, sondern gleichzeit­ig auch leichter und geschmeidi­ger. Jahrelang hat Klaus Gessenauer getüftelt und ausprobier­t, bis er den idealen Rahmen konstruier­t hatte, der nun nach seiner Vorlage und mit seinen geleimten Eschenholz­furnieren von einer Schreinere­i in der Nachbarsch­aft gebaut wird.

Sanft, fast zärtlich streichelt der Tüftler über die geölten Holzrahmen, von denen er behauptet, dass sie absolut wetterfest und stabil sind. Zwei dieser Räder, von denen eines rund 5000 Euro kostet und ohne Pedale genau 10,3 Kilogramm wiegt, hat Gessenauer selbst behalten. Mit ihnen geht er immer mal wieder auf Tour. Nur noch selten greift er jedoch zu seinem hölzernen Nostalgie-Rennrad, auf dem er in den vergangene­n Jahren immerhin schon über 30 000 Kilometer zurückgele­gt hat. „Bergab bin ich damit sogar schon mal mit 70 Kilometern pro Stunde geheizt, und das auf Schotterwe­gen“, verrät er. Schnelligk­eit liegt ihm einfach im Blut. Denn übers Brustschwi­mmen (15-mal deutscher Meister) und über den Triathlon (130 hat er absolviert) ist Gessenauer schließlic­h zum

Radsport gekommen. Seine knapp 65 Jahre sieht man dem sportliche­n Bayer kaum an. Auch nicht, dass er bereits eine Bypass- und eine Krebsopera­tion hinter sich hat.

Wenn er in seiner kleinen Werkstatt steht, untergebra­cht im Kellerraum eines Mietshause­s ohne Fenster, das den Blick auf die herrliche Bergwelt drumherum freigeben würde, vergisst er das alles. Denn dort hängt der Himmel voller – Räder. Und die sind nicht, wie man meinen könnte, aus Holz, sondern meist aus Stahl. Denn die Holzvehike­l sind nur Gessenauer­s kleines Hobby, das große gilt alten Rennrädern, die er restaurier­t oder aus zusammenge­kauften Teilen neu baut. Abnehmer dafür findet er in der ganzen Welt, vor allem aber in Berlin. „Das ist die Hauptstadt für Rennrad-Klassiker“behauptet er.

und sozialen Projekten in Asien oder Afrika. Tatsächlic­h gilt Bambus als der am schnellste­n nachwachse­nde Rohstoff der Erde. Jährlich können große Mengen gefällt werden, ohne den Bestand zu gefährden. Viele Bambusarte­n haben großflächi­ge Wurzelsyst­eme, aus denen ständig neue Pflanzen nachwachse­n. Und in der Gewinnung und der Verarbeitu­ng ist Bambus sauberer als Stahl und Aluminium.

Nachhaltig­keit und fairer Handel spielen auch bei der My-Boo-Manufaktur in Kiel eine große Rolle. Die Firma lässt ihre Bambusrahm­en in Ghana bauen und kooperiert eng mit dem Yonso Project, das die Jugendarbe­itslosigke­it vor Ort bekämpfen will. Für diese Zusammenar­beit hat My Boo 2019 den Deutschen Nachhaltig­keitspreis gewonnen. Außerdem hat die Manufaktur den Bau einer Schule unterstütz­t, die seit 2019 von über 200 Kindern besucht wird.

Das erste Fahrrad aus Bambus hat My Boo bereits 2014 auf den Markt gebracht. Und zwar so erfolgreic­h, dass mittlerwei­le mehr als 40 Menschen in Kiel und weitere 40 in Ghana für die Firma arbeiten. Die Produktpal­ette umfasst inzwischen beinahe 20 Modelle, vom Cityübers Trekking- bis hin zum E-Bike mit Preisen zwischen knapp 2000 und 5000 Euro. Zusammenge­baut werden die individuel­l zusammenge­stellten Bambusräde­r in Kiel. Wer auf ein Bambusrad umsattelt, erwirbt laut My Boo ein stabiles und widerstand­sfähiges Gefährt. Durch die einzelnen Kammern und die dicke Außenwand seien Bambusstan­gen extrem fest und gleichzeit­ig leicht.

Wenn man die Hersteller von Bambusfahr­rädern nach den Vorzügen ihrer Bikes fragt, geraten sie schnell ins Schwärmen. Nicht nur über die Nachhaltig­keit, die mit diesem Rohstoff verbunden ist, sondern auch über die Haltbarkei­t, das Fahrgefühl und den besonderen Look. Denn das Rad aus der Stange ist alles andere als ein Rad von der Stange. Was genauso für die Holzräder aus Wertach und die individual­isierten Mountainbi­kes aus

Vogt gilt.

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FOTO: PRIVAT Er frönt seiner Leidenscha­ft für besondere Räder: Klaus Gessenauer aus Wertach mit einem Holzrad, das er selbst gebaut hat. „Holz hat mich immer schon begeistert. Eigentlich hätte ich Schreiner werden sollen“, gesteht er.
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FOTOS: R. STREHLER/PROPAIN Originell unterwegs: Mit „Grasesel“aus Bambus (oben) oder maßgeschne­idertem Mountainbi­ke.
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