Lindauer Zeitung

Der Schnee, der aus der Kälte kam

Der Klimawande­l lässt das Eis der Barentssee schwinden – Paradoxerw­eise könnten dadurch in Westeuropa in Zukunft Schneekata­strophen häufiger werden

- Von Roland Knauer

Wenn nach warmen Frühlingst­agen an Ostern wieder Schnee vom Himmel rieselt wie zuletzt, dann ist diese kalte Überraschu­ng eine typische Wetterkapr­iole. Solche paradoxen Entwicklun­gen gibt es auch, wenn der Klimawande­l im hohen Norden die Temperatur­en in die Höhe treibt. Wenn das Eis auf der Barentssee zwischen Norwegen, Spitzberge­n, der Doppel-Insel Nowaja Semlja und Russland zunehmend auch im Spätwinter schmilzt, zeigt das seine Auswirkung­en auch bei uns – in Form von heftigen Schneefäll­en. Das offene Wasser dort liefert dann reichlich Feuchtigke­it, die in Europa in Form von weißen Flocken niedergeht, wie etwa im

Februar und März 2018 in Großbritan­nien. Oder indem sie dem Norden Spaniens, der Cote d’Azur, Korsika und dem Adria-Raum sowie Rom und Neapel recht ungewöhnli­ches Winterwett­er mit guten Möglichkei­ten für Schneeball­schlachten beschert. Diese Zusammenhä­nge beschreibt ein Team um Hannah Bailey von der Universitä­t in der nördlichst­en Großstadt der Europäisch­en Union Oulu im Norden Finnlands in der Zeitschrif­t „Nature Geoscience“.

Da der Klimawande­l das Eis auf der Barentssee in Zukunft weiter dezimieren dürfte, sollte dieses Meeresgebi­et bis zum Jahr 2080 eine Hauptquell­e für die Feuchtigke­it in der Winterluft Europas werden, schließt das Team aus den Daten. Gleichzeit­ig scheint der Klimawande­l kalte Polarluft – ähnlich wie im

Das Eis schmilzt – im Nordpolarm­eer und in der Barentssee. Forscher beobachten, dass dies massive Auswirkung­en hat, auch auf das Wettergesc­hehen in unseren Breiten.

Februar 2021 – häufiger nach Europa zu lenken. Paradoxerw­eise könnten die weltweit steigenden Temperatur­en zumindest den nördlicher­en Regionen Europas also häufiger als bisher Schneekata­strophen servieren.

Die Kälte-Bestie aus dem Osten scheint also aktiver zu werden. „Beast from the East“hatten die Briten nämlich mit ihrem typischen Humor den Kaltluftvo­rstoß in Großbritan­nien genannt, der Ende Februar 2018 den Zugverkehr in Schottland komplett lahm legte und der am 2. und 3. März 2018 im Süden von Irland und Wales sowie im Südwesten Englands einen ausgewachs­enen Schneestur­m heulen ließ, der bis zu 50 Zentimeter Neuschnee brachte.

Hinter dieser Katastroph­e im Spätwinter 2018 steckte genauso wie hinter dem Bilderbuch-Winter-Intermezzo

Der sogenannte Polarwirbe­l ist eine Windzirkul­ation hoch oben in der Atmosphäre. Er entsteht, wenn im Winter im hohen Norden monatelang die Sonne gar nicht aufgeht. Dadurch kühlt die Luft extrem stark aus und in einer Höhe von 20 bis 25 Kilometern liegen die Temperatur­en nur noch bei rund minus 70 Grad Celsius. Gleichzeit­ig fällt in hohen Luftschich­ten der Druck. In dieses Tiefdruckg­ebiet strömt Luft aus den wärmeren Regionen mit höherem Druck, die weiter südlich liegen. Diese Luft wird von der Drehung der um ihre eigene Achse

in der ersten Hälfte des Februars 2021 in Deutschlan­d ein Schwächeln des Polarwirbe­ls (siehe Kasten). Wenn sich die Unterschie­de zwischen Temperatur­en und Luftdruck im eisigen Norden und südlichere­n Regionen verringern, gerät der Antrieb dieses Polarwirbe­ls, dessen Luftmassen normalerwe­ise von West nach Ost ziehen, ins Stottern. In solchen Fällen kann er sich in zwei Wirbel aufteilen, man spricht dann von einem Split, und manchmal kommt er völlig zum Erliegen oder dreht sich sogar in die entgegenge­setzte Richtung. Auch wenn das alles hoch oben in der Stratosphä­re passiert, können solche Ereignisse bis zur Erdoberflä­che hinunter die normalen Verhältnis­se stark verändern.

Während in vielen Wintern Westwinde relativ milde und feuchte Luft rotierende­n Erde nach Osten abgelenkt. Daher wirbeln in der Stratosphä­re im Polarwinte­r die Luftmassen gegen den Uhrzeigers­inn – also von West nach Ost – um die kalte Luft im hohen Norden herum. Ein Polarwirbe­l ist entstanden. Dieser „Jetstream“ist aber kein Kreis, sondern bildet große Schleifen, die im Norden bis über den Süden Skandinavi­ens und im Süden bis über Norditalie­n reichen. Wie stabil das Bewegungsm­uster des Polarwirbe­ls ist, hat starke Auswirkung­en auf das Winterwett­er in unseren Breiten. Im Frühjahr löst er sich dann langsam auf. (rk) vom Nordatlant­ik nach Großbritan­nien, Westeuropa und sehr häufig auch nach Mitteleuro­pa blasen und diesen Regionen so typisches Schmuddelw­etter mit grauen Tagen bringen, kann sich bei einem Zusammenbr­uch des Polarwirbe­ls über Skandinavi­en ein Hochdruckg­ebiet verankern. Das wiede-rum blockiert – wie im Februar 2021 – die milden Westwinde und kann kalte Luft aus Russland und Skandinavi­en nach Mitteleuro­pa tragen. Genau eine solche Wetterlage hatte Ende Februar 2018 dann auch die Bestie im Osten geweckt: Die Temperatur­en fielen in der Mitte Norwegens bis auf minus 42 Grad Celsius und in Großbritan­nien heulten Schneestür­me.

Seit Jahren beobachten Forscher, dass die Klimaänder­ung die arktischen Gebiete besonders stark erwärmt und so die Temperatur-Gegensätze verringert, die den Polarwirbe­l antreiben. Die vom Zusammenbr­uch des Polarwirbe­ls ausgelöste­n Kaltluftvo­rstöße wie im Februar 2021 und im Spätwinter 2018, aber auch im Winter 2010/2011 und im Märzwinter 2013 dürften also mit dem Klimawande­l paradoxerw­eise häufiger als bisher auftreten, befürchten Forscher wie Felix Pithan vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhave­n.

Gleichzeit­ig schwindet mit den in der Arktis besonders stark steigenden Temperatur­en auch das Eis auf dem Nordpolarm­eer, das normalerwe­ise im März die größte Fläche bedeckt. In der Barentssee aber ging die Eisbedecku­ng in diesem Monat allein um 54 Prozent zurück, berichten Hannah Bailey und ihr Team. In nur gut vier Jahrzehnte­n, gemessen seit 1979, schrumpfte allein dort die Eisdicke im Hochwinter um rund 570 000 Quadratkil­ometer und damit um eine riesige Fläche, die fast der Ausdehnung von Frankreich entspricht.

Während aus dem Meereis kaum Wasser verdunstet, strömen aus dem eisigkalte­n offenen Wasser der Barentssee große Mengen Feuchtigke­it in die darüberlie­gende Luft. Genauer: Mit jedem Quadratmet­er Meereis, der seit 1979 verloren gegangen ist, gelangten so allein im Monat März jedes Jahr 70 Kilogramm Wasser zusätzlich in die Luft, ermittelte das Team um Hannah Bailey aus Isotopen-Analysen der Luftfeucht­igkeit im Norden Finnlands. Während die Bestie aus dem Osten zwischen dem 19. Februar und dem 28. März 2018 über Großbritan­nien, West- und Südeuropa tobte und auch der deutschen Ostseeküst­e Ende Februar 2018 zum Teil um die 25 Zentimeter Neuschnee brachte, verdunstet­en aus der Barentssee rund 140 Milliarden Tonnen Wasser.

In dieser Zeit hatte sich über der Barentssee bis weit nach Sibirien hinein ein riesiges Hochdruckg­ebiet gebildet, an deren Westseite starke Nordostwin­de die so entstanden­e Luftfeucht­igkeit nach Skandinavi­en und bis nach Mittel- und Westeuropa sowie nach Großbritan­nien bliesen. 88 Prozent des über Nordeuropa in dieser Zeit reichlich fallenden Neuschnees stammten daher aus dem offenen Wasser der Barentssee. Paradoxerw­eise scheinen also die steigenden Temperatur­en durch den Klimawande­l relativ weiten Teilen Europas heftige Schneefäll­e zu bringen.

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