Erdogans auffälliges Schweigen
Der türkische Präsident zögert mit einer Reaktion auf Bidens Armenier-Erklärung
- Zwischen der Türkei und den USA werde ab sofort nichts mehr so sein wie vorher, schimpfte der türkische Nationalistenchef Devlet Bahceli: „Wir stehen an einer Wegscheide.“Dass US-Präsident Joe Biden die osmanischen Massaker an den Armeniern offiziell als Völkermord eingestuft hat, will Bahceli nicht hinnehmen. Er werde jede Vergeltungsmaßnahme mittragen, erklärte der Rechtsnationalist und Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Nicht nur Bahceli ist empört. Fast alle Parteien und führenden Politiker der Türkei weisen Bidens Erklärung zurück; die Regierung bestellte den US-Botschafter ins türkische Außenamt. Nur einer hielt sich am Wochenende auffällig zurück: Erdogan, der sich sonst gerne mit ausländischen Politikern anlegt, schwieg zu Bidens
Erklärung. Erst nach einer Kabinettssitzung an diesem Montag werde sich der Präsident öffentlich äußern, berichteten türkische Medien am Sonntag.
Bei einer Reaktion auf Bidens Erklärung muss Erdogan mehrere Dinge abwägen. Nicht nur Koalitionspartner Bahceli erwartet von ihm eine entschiedene Antwort: Die allermeisten Türken weisen den Völkermordsvorwurf zurück. Vier von fünf Türken betrachten die USA zudem als größte Bedrohung für ihr Land, wie eine Umfrage ergab. Einige Nationalisten fordern, die Türkei solle die wichtige Luftwaffenbasis Incirlik nahe der syrischen Grenze für die amerikanische Luftwaffe sperren.
Doch Erdogan muss auch die türkische Wirtschaft im Blick haben, die unter einem starken Wertverlust der Landeswährung, hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leidet. Schon vor Bidens Erklärung war der
Kurs der Lira gegen Euro und Dollar gefallen. Wenn Erdogan nun Öl ins Feuer gießt, könnte er der eigenen Wirtschaft noch mehr schaden. Möglicherweise wird der Präsident deshalb versuchen, die Krise mit den USA herunterzuspielen. Die Reaktionen der regierungsnahen Medien in der Türkei fielen am Sonntag jedenfalls relativ zahm aus.
Unabhängig von Erdogans Reaktion wird sich die Türkei auf eine neue Realität in ihren Beziehungen zu den USA einstellen müssen: Biden hat mit seinem hochsymbolischen Schritt die Beziehungen herabgestuft. Unter Vorgänger Donald Trump war Erdogan gewohnt, Probleme im direkten Gespräch mit dem US-Präsidenten auf Augenhöhe auszuräumen. Das werde es unter Biden nicht geben, sagt der türkische Journalist Rusen Cakir, einer der besten Erdogan-Kenner des Landes: „Es gibt kein Zurück mehr.“