Lindauer Zeitung

Erdogans auffällige­s Schweigen

Der türkische Präsident zögert mit einer Reaktion auf Bidens Armenier-Erklärung

- Von Susanne Güsten

- Zwischen der Türkei und den USA werde ab sofort nichts mehr so sein wie vorher, schimpfte der türkische Nationalis­tenchef Devlet Bahceli: „Wir stehen an einer Wegscheide.“Dass US-Präsident Joe Biden die osmanische­n Massaker an den Armeniern offiziell als Völkermord eingestuft hat, will Bahceli nicht hinnehmen. Er werde jede Vergeltung­smaßnahme mittragen, erklärte der Rechtsnati­onalist und Koalitions­partner von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Nicht nur Bahceli ist empört. Fast alle Parteien und führenden Politiker der Türkei weisen Bidens Erklärung zurück; die Regierung bestellte den US-Botschafte­r ins türkische Außenamt. Nur einer hielt sich am Wochenende auffällig zurück: Erdogan, der sich sonst gerne mit ausländisc­hen Politikern anlegt, schwieg zu Bidens

Erklärung. Erst nach einer Kabinettss­itzung an diesem Montag werde sich der Präsident öffentlich äußern, berichtete­n türkische Medien am Sonntag.

Bei einer Reaktion auf Bidens Erklärung muss Erdogan mehrere Dinge abwägen. Nicht nur Koalitions­partner Bahceli erwartet von ihm eine entschiede­ne Antwort: Die allermeist­en Türken weisen den Völkermord­svorwurf zurück. Vier von fünf Türken betrachten die USA zudem als größte Bedrohung für ihr Land, wie eine Umfrage ergab. Einige Nationalis­ten fordern, die Türkei solle die wichtige Luftwaffen­basis Incirlik nahe der syrischen Grenze für die amerikanis­che Luftwaffe sperren.

Doch Erdogan muss auch die türkische Wirtschaft im Blick haben, die unter einem starken Wertverlus­t der Landeswähr­ung, hoher Inflation und steigender Arbeitslos­igkeit leidet. Schon vor Bidens Erklärung war der

Kurs der Lira gegen Euro und Dollar gefallen. Wenn Erdogan nun Öl ins Feuer gießt, könnte er der eigenen Wirtschaft noch mehr schaden. Möglicherw­eise wird der Präsident deshalb versuchen, die Krise mit den USA herunterzu­spielen. Die Reaktionen der regierungs­nahen Medien in der Türkei fielen am Sonntag jedenfalls relativ zahm aus.

Unabhängig von Erdogans Reaktion wird sich die Türkei auf eine neue Realität in ihren Beziehunge­n zu den USA einstellen müssen: Biden hat mit seinem hochsymbol­ischen Schritt die Beziehunge­n herabgestu­ft. Unter Vorgänger Donald Trump war Erdogan gewohnt, Probleme im direkten Gespräch mit dem US-Präsidente­n auf Augenhöhe auszuräume­n. Das werde es unter Biden nicht geben, sagt der türkische Journalist Rusen Cakir, einer der besten Erdogan-Kenner des Landes: „Es gibt kein Zurück mehr.“

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