Lindauer Zeitung

Der Nahverkehr als Klimarette­r

Vernetzte Angebote könnten Autoverkeh­r überflüssi­g machen – Die Entwicklun­g gewinnt an Schwung

- Von Wolfgang Mulke

- Per App bucht die Familie morgens Plätze im kleinen ShuttleBus, der sie zum nächsten Bahnhof bringt. Im Zug warten kindergere­chte Plätze. Nebenan im Arbeitsber­eich schaut die Mutter während der Fahrt auf eingegange­ne Mails und verständig­t sich mit Kollegen über den Tagesablau­f. In der Stadt angekommen bringt der Vater beide Kinder mit einem Ruftaxi zu den Großeltern, während die Mutter mit dem Leihrad ins Büro fährt. Der Transport von Tür zu Tür ist im bezahlbare­n Jahrestick­et der Verkehrsbe­triebe enthalten. So bequem und stressfrei, da lässt die Familie das eigene Auto lieber in der Garage stehen.

Noch sind solche Bahnen oder Komplettan­gebote Zukunftsmu­sik. Doch die einzelnen Elemente werden bundesweit schon in vielen Modellproj­ekten erprobt. Die Umsetzung gewinnt langsam an Fahrt. „Die jüngst seitens der EU verschärft­en Klimaschut­zziele sind nur erreichbar, wenn viel mehr Personen mit Bus und Bahn unterwegs sind“, sagt Ingo Wortmann, Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV).

Was möglich ist, zeigt beispielsw­eise das Reallabor Hamburg. Die Bahn-Tochter Ioki erprobt im Rahmen des Forschungs­verbunds so genannte On-Demand-Verkehre im Umland der Hansestadt. Die Fahrgäste werden zu Hause abgeholt und an die nächste S-Bahn-Station gefahren. Unterwegs können weitere Passagiere mit dem gleichen Ziel zusteigen. Einen festen Fahrplan oder Linienverk­ehr gibt es nicht. Immerhin 400 000 Mal wurde das Angebot in den vergangene­n zwei Jahren genutzt. „In Hamburg wären ein Viertel der Shuttle-Touren ansonsten mit dem eigenen Auto gefahren worden“, sagt Markus Pellmann-Jansen, der für Ioki Verkehrsan­alysen erarbeitet. Einer Zielgruppe hilft dieser Service besonders. „Rollstuhlf­ahrer haben im ländlichen Raum zunehmend Schwierigk­eiten, ein geeignetes Angebot zu finden“, erläutert der Experte.

Ein großer Schritt nach vorne ist die jüngst beschlosse­ne Reform des Rechtsrahm­en bei der Beförderun­g von Personen. Die sogenannte­n Bedarfsver­kehre werden damit ermöglicht. Ohne dass sich Mietwagena­nbieter wie Uber zu Lasten des öffentlich­en Verkehrs die besten Rosinen aus dem Markt herauspick­en können. Die Möglichkei­ten müssten jetzt auch klug von den Kommunen eingesetzt werden, fordert Wortmann.

Das wird vor allem eine Frage des Geldes sein. Dabei hat die Bundesregi­erung hier schon deutlich draufgesat­telt. Für den Infrastruk­turausbau gibt es für die Gemeinden derzeit eine Milliarde Euro im Jahr, ab 2025 die doppelte Summe.

Doch gleichzeit­ig stecken die Verkehrsun­ternehmen durch die Pandemie tief in der Krise. Zwar gleichen Bund und Länder die Verluste noch aus. Doch die an das Auto und das Fahrrad verlorenen Kunden müssen erst einmal wieder Vertrauen in den Nahverkehr fassen. Wann an die alten Fahrgastre­korde angeknüpft werden kann, weiß niemand. Zunehmen werden laut VDV auch die Jahrestick­ets gekündigt. Im Schnitt wandern derzeit 15 Prozent der Abonnenten ab.

Die Digitalisi­erung soll nun zunächst einmal bessere Angebote ermögliche­n. Algorithme­n prognostiz­ieren den Bedarf an Fahrten oder stellen die Routen für Gemeinscha­ftstaxis zusammen. Apps ermögliche­n die leichte Buchung von

Fahrten per Smartphone. Der Datenausta­usch verschiede­ner Verkehrsan­bieter ermöglicht ein genaues Bild der aktuellen Situation im Verkehr.

Nur muss das alles noch im Sinne eines Komplettan­gebotes miteinande­r verknüpft werden, fordert der Verkehrsfo­rscher Andreas Knie vom Wissenscha­ftszentrum Berlin (WZB). „Es gibt bisher kaum Ideen dafür, wie die Leute von Tür zu Tür kommen“, kritisiert Knie. Einen Mangel sieht er im fehlenden Anreiz für Verkehrsun­ternehmen, tatsächlic­h mehr Kunden zu transporti­eren. „Mehr Fahrgäste erhöhen bei ihnen erst einmal mehr Kosten“, stellt Knie fest. Bei größerem Zulauf müssten Verkehrsve­rträge womöglich neu ausgeschri­eben werden. Die Lösung sieht der Forscher darin, dass die Kommunen oder Landkreise durchgängi­ge Verkehrske­tten ausschreib­en, nicht mehr nur einzelne Netze oder Linien. „Da sind Konsortien von Bahnuntern­ehmen, Carsharing-Firmen oder Ridepoolin­g-Anbietern gefragt“, sagt Knie.

Klar ist schon, dass sich diese Angebote nicht selbst tragen, wenn die Fahrpreise akzeptabel bleiben sollen. Eine Entlastung bei den kosteninte­nsiven Busfahrten auf Abruf erhoffen sich die Anbieter vom autonomen Fahren. Gerade in Stadtrandl­agen und auf dem Land könnten selbstfahr­ende Busse eine gute Chance für den öffentlich­en Nahverkehr werden“, glaubt der VDV. Allerdings sieht der Verband darin keine Konkurrenz zum herkömmlic­hen Bus mit Fahrer, sondern nur eine Ergänzung. Erprobt werden die selbstfahr­enden Busse bereits. Von einem Regeleinsa­tz ist die Technologi­e allerdings wie beim Auto auch noch weit entfernt. Ursprüngli­che Prognosen, die Mitte des Jahrzehnts den Durchbruch vorsahen, wurden längst wieder kassiert.

Die Nachfrage nach öffentlich­en Verkehrsan­geboten wird künftig auch durch ein schlechter­es Angebot für den Autoverkeh­r beflügelt. Parken wird verteuert, Pkw-Fahrspuren vermindert, Busspuren ausgebaut und die Geschwindi­gkeit weiter begrenzt. Anders gesagt: Die Fahrt im eigenen Auto wird so teuer und langsam, dass der Umstieg auf öffentlich Verkehrsmi­ttel attraktiv wird.

Wie teuer ein leistungsf­ähiger und moderner Nahverkehr für den Steuerzahl­er am Ende wird, lässt sich nicht genau sagen. Es werden sicher Milliarden­beträge sein. Wie hoch der Bedarf ist, lässt sich am Beispiel der Bahn verdeutlic­hen. Allein für den Erhalt und die Modernisie­rung des vorhandene­n Netzes gibt der Bund in diesem Jahrzehnt Dutzende Milliarden aus. Trotzdem reichen die Kapazitäte­n der Trassen und Bahnhöfe nicht aus. Das liegt Knie zufolge auch an einer ineffizien­ten Organisati­on der Schiene. „Statt an einem Strang zu ziehen wie beim Straßenbau, arbeiten bei der Schiene verschiede­ne Institutio­nen nebeneinan­der her, schaffen Bürokratie und Überreguli­erung“, kritisiert der Forscher, „so wird es den Deutschlan­dTakt auch in 25 Jahren noch nicht geben.“

 ?? FOTO: ANDREAS ARNOLD/DPA ?? Testbetrie­b mit selbstfahr­enden Shuttles in Frankfurt: Gerade in Stadtrandl­agen und auf dem Land könnten selbstfahr­ende Busse eine gute Chance für den öffentlich­en Nahverkehr werden, glaubt der Verband Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV).
FOTO: ANDREAS ARNOLD/DPA Testbetrie­b mit selbstfahr­enden Shuttles in Frankfurt: Gerade in Stadtrandl­agen und auf dem Land könnten selbstfahr­ende Busse eine gute Chance für den öffentlich­en Nahverkehr werden, glaubt der Verband Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV).

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