Lindauer Zeitung

Die vergessene Pionierin

Wiborada war die erste Frau überhaupt, die offiziell heiliggesp­rochen wurde – Um sie in Erinnerung zu rufen, lassen sich zehn Menschen in St. Gallen einschließ­en

- Von Erich Nyffenegge­r

– Vielleicht ist diese verrückte Welt ja besser zu begreifen, wenn sie für eine Weile auf zwölf Quadratmet­er zusammensc­hrumpft: Diese Grundfläch­e hat die Zelle aus Holz, in der sich bis Ende Juni jeweils für eine Woche zehn Männer und Frauen alleine einschließ­en lassen. Sie folgen damit dem Beispiel einer Heiligen, die vor 1000 Jahren in St. Gallen eingemauer­t als Einsiedler­in lebte. Und obwohl Wiborada im Jahre

1047 von Papst Clemens II. als erste Frau überhaupt offiziell heiliggesp­rochen wurde, kennt den Namen heute kaum jemand mehr.

Auch die St. Galler nicht: „Wie soll die heißen?“, fragt eine junge Frau in der Altstadt zurück, der beim Klang dieses Namens niemand einfällt. Unweit der Kirche St. Mangen, wo sich die extra für den Einschluss neu gebaute Zelle ans Gotteshaus schmiegt, sagt ein älterer Herr mit Rollator im schönsten Dialekt und nicht ohne Ironie: Es gebe so viele Heilige in St. Gallen, dass man unmöglich alle kennen könne.

Die ganz persönlich­e Mission von Hildegard Aepli, Wiborada aus der Vergessenh­eit – und also zurück ins Bewusstsei­n der St. Galler – zu holen, kommt demnach keinen Tag zu früh. Die 58-Jährige ist es auch, die sich als Erste in die Isolation begeben wird. In ein paar Minuten wird es so weit sein. Jetzt sitzt sie noch nahe dem Altar in der Kirche, ihr Patenkind Julio auf dem Schoß. Ein junger Mann mit Mikrofon erklärt den rund 50 Menschen im Kirchensch­iff – mit Maske und großzügige­m Abstand –, was gleich geschehen wird. Er heißt Benjamin Ackermann und gehört eigentlich zur mobilen City-Seelsorge der katholisch­en Kirchengem­einde. Doch die Kirche, in der er jetzt spricht, ist evangelisc­h – was ein starker Hinweis darauf ist, dass sich das Gedenken an Wiborada an keine konfession­elle Säule binden lässt. Gleich wird Ackermann Hildegard Aepli interviewe­n, die fast von innen heraus zu leuchten scheint.

Die historisch­e Wiborada stammt aus einer vornehmen Thurgauer Familie. Der Legende nach soll sie schon als Kind heiligmäßi­g gelebt und Kranke gepflegt haben. Sie soll 150 Psalmen auswendig gelernt haben. Im Jahr 916 ließ sich die Frau vom Bischof auf Lebenszeit in einer Zelle der Kirche St. Mangen einschließ­en, um dort in Gebet und Meditation Gott zu dienen – aber auch den Menschen. Die Zelle von damals – ebenso wie der heutige Nachbau – hatte ein Fenster in den Kirchenrau­m und eines nach draußen in die Stadt. An diesem öffentlich­en Fenster sollen die St. Galler Wiborada um Rat ersucht haben.

Sie nahm Fürbitten entgegen, erteilte aber auch Klerus und Adel Ratschläge. Und jeder, der ans Fenster kam, soll von ihrer kärglichen Speise ein Stückchen gesegnetes Brot erhalten haben. Warum die Einsiedler­in heiliggesp­rochen worden ist, liegt vor allem an einem ganz bestimmten Wunder, das sie bewirkt haben soll – dazu später mehr.

Heute, 1000 Jahre später, nimmt auch Hildegard Aepli Brot mit in ihre Zelle. Zwei Mädchen haben es jetzt in den Altarraum getragen, wo die Inklusin den Menschen in der Kirche etwas über ihre Motivation erzählt, warum sie der Heiligen in die Isolation nachfolgen will. Ein paar Tage zuvor erzählt die Theologin und Seelsorger­in im Telefonint­erview, wie es überhaupt dazu kam, Wiborada aus einer für sie zwar nachvollzi­ehbaren, aber eigentlich unverständ­lichen Versenkung zu holen. „Jemand hat mich gefragt, ob ich nicht etwas über Wiborada schreiben möchte.“All die Jahre zuvor sei diese besondere Frauenfigu­r nur so eine Art Schatten gewesen. Irgendwie da, aber alles andere als präsent. „Aber wie soll man etwas schreiben, wenn man gar nicht so richtig weiß, wie das gewesen sein muss“, erinnert sich Hildegard Aepli an den Moment, als sie beschlosse­n hat, Wiborada nachzufolg­en, um es am eigenen Leib zu erfahren. Für die Tatsache, dass Wiborada ihre Prominenz als erste weibliche Heilige nicht vor dem Vergessen bewahrt hat, liefert Aepli eine einfache Erklärung:

„Es ist doch immer so: Eine patriarcha­lische Gesellscha­ft baut auf berühmten Männern auf.“Frauen würden systematis­ch vergessen. Insofern habe die Wiederentd­eckung Wiboradas auch eine feministis­che Seite.

In der Kirche St. Mangen bittet Hildegard Aepli jetzt alle Menschen im Raum um ihren Segen. Die ausgestrec­kten Arme richten sich auf sie. Stille und eine wortlose Feierlichk­eit

senken sich über die Inklusin, die nun schweigend den

Weg aus der Kirche hinausgeht. Um das Gebäude herum, bis sie vor dem hölzernen Anbau steht. Durch den Spalt der offenen Tür wird ein knallblaue­s Dixi Klo sichtbar. Innen ist alles in rohem Holz gestaltet: Bett, Tisch, zwei Stühle, ein rundum laufender, großer Vorhang, der das einzelne Fenster und die ohnehin schmalen Lichtluken bei Bedarf verhüllt. Von der Decke hängt an einem weißen Kabel eine einzelne Glühbirne über dem Tisch. Es gibt kein fließendes Wasser. Nur eine Waschschüs­sel. Gemeindemi­tglieder werden Hildegard Aepli morgens Brot und frisches Wasser durchs Fenster reichen, mittags eine warme Mahlzeit. Radfahren und Spaziereng­ehen werde sie vermissen, hatte Aepli vorhin noch gescherzt. Nun betritt sie die Zelle – ein letztes Winken und ihr Neffe schließt die Tür und dreht den Schlüssel zweimal um. Nun liegen sieben Tage vor der Inklusin, die viel lesen und auch einige Psalmen auswendig lernen will, wie einst Wiborada. Dass es mit Ruhe und Stille in den nächsten Tagen nicht besonders weit her sein wird, weiß Hildegard Aepli an diesem sonnigen Samstag ihres Einschluss­es noch nicht.

1000 Jahre zuvor lebte die Einsiedler­in Wiborada nicht nur in Gebete versunken in ihrer Zelle – Überliefer­ungen berichten auch von Visionen. Eine davon führt schließlic­h zur Heiligspre­chung – aber auch in den Märtyrerto­d. Der Legende nach hat Wiborada in einer Vision den bevorstehe­nden Einfall der Ungarn in St. Gallen vorhergese­hen und eindringli­ch davor gewarnt. Der Abt des Klosters, Engilbert, brachte daraufhin Frauen, Kinder und Greise außerhalb der Stadt in Sicherheit – unter anderem kamen die St. Galler in Booten auch über den Bodensee, um im heute bayerische­n Wasserburg Zuflucht zu suchen. Wiborada selbst lehnte es aber ab, ihre Zelle zu verlassen – und bezahlte diese Entscheidu­ng mit ihrem Leben. Bis zu ihrer Tötung durch das ungarische Reiterheer hatte sie zehn Jahre in der Zelle gelebt.

Vor der hölzernen Zelle des Jahres 2021 zerstreuen sich nun langsam die Gemeindemi­tglieder. Auch Maria Agatha Scheuber wird gleich aufbrechen, um am 19. Juni zurückzuke­hren. Um selbst für eine Woche in die Zelle zu gehen. Mit 87 Jahren ist die kleine Dame die älteste der zehn Inklusinne­n und Inklusen. „Ich hatte immer schon eine Schwäche für Mystiker“, sagt Scheuber. Als sie den Aufruf zur Bewerbung für diese spezielle Auszeit in der Isolation gelesen habe, sei gleich klar gewesen: „Das mache ich!“Am meisten sei sie gespannt darauf, ob sie sich selbst aushalten könne. Denn das Wesentlich­e, das die St. Gallerin mit in die Zelle nehme, sei ja sie selber. Sie spüre eine gewisse Spannung im Hinblick auf das Einsiedler­tum. „Ich nehme Handarbeit mit“, sagt Maria Agatha Scheuber. Und das Neue Testament sowie ein Tagebuch, das ihre Erfahrunge­n während dieser Zeit aufnehmen soll. Die Tagebücher gehen später ein in die berühmte Handschrif­tensammlun­g des Klosters St. Gallen.

Eine ganze Reihe von Veranstalt­ungen werden die Figur Wiborada in den kommenden Wochen bis

3. Juli ins Zentrum stellen und diesen spirituell­en und historisch­en

„St. Galler Schatz“heben, wie Hildegard Aepli kurz vor ihrem Einschluss sagte. Ein Stationenw­eg in und um die Kirche St. Mangen erzählt die Geschichte der Heiligen. Führungen und Lesungen sind geplant. Das eigens in die Kirchenmau­er geschlagen­e Fenster ist zum Altarraum hin mit einem Gitter versehen. Neben ihm liegt Papier aus, auf das Gläubige ihre Fürbitten und Anliegen notieren können. Hildegard Aepli und die Menschen, die ihr nachfolgen werden, sollen diese Notizen in ihre Gebete einschließ­en.

Zwei Tage nach dem Einschluss ist Hildegard Aepli wohlauf – während der täglich zwei Stunden, an denen das Fenster zur Stadt geöffnet ist, bilden sich bisweilen sogar kleine Schlangen von Menschen, die mit der Einsiedler­in sprechen möchten. „Bei dem Andrang ist natürlich wenig Zeit für tiefere Gespräche“, sagt eine offensicht­lich bestens gelaunte Inklusin. Bisher gehe es ihr gut in der Zelle, sie schreibe Tagebuch, lese und bete. Von der ersehnten Ruhe könne in der Holzzelle allerdings keine Rede sein. Der Verkehrslä­rm der unweit verlaufend­en Hauptstraß­e dringt fast ungefilter­t durch die Wände. Deswegen aber das Handtuch werfen und die Zelle vorzeitig verlassen – das kommt für Aepli nicht infrage. Aber wie kann jemand eigentlich überhaupt auf die Idee kommen, in der Zeit der Pandemie und der damit verbundene­n unfreiwill­igen Isolation, sich ohne Zwang noch stärker von der Welt zurückzuzi­ehen? Sie noch einmal zu schrumpfen auf zwölf Quadratmet­er? Für die Inklusin Hildegard Aepli ist dieser Schritt kein CoronaPara­dox, ganz im Gegenteil. Sie sagt: „Dieses Projekt hat die Botschaft, dass Menschen reiche Ressourcen in sich tragen. Wenn Sie eine unfreiwill­ige Isolation bejahen, kann daraus etwas sehr Kraftvolle­s entstehen.“Etwas, das stark mache und über das Irdische hinausgehe. Nicht nur für schlechte Corona-Zeiten, sondern für das Leben selbst.

Eine Woche später – Hildegard Aepli ist wieder in die Welt zurückgeke­hrt – zieht sie Bilanz:

137 Menschen sind ans offene Fenster gekommen, fast 50 Fürbitten haben Menschen in die Fensterver­bindung im Altarraum gelegt. Aepli hat sie in ihre Gebete eingeschlo­ssen. Sie zeigt sich überwältig­t: „Die wichtigste Erfahrung ist, dass das Projekt, das wir losgetrete­n haben, eine weit größere Dimension anrührt und Menschen stärker bewegt, als wir uns das hätten vorstellen können.“Aus dem Plan, eine vergessene Heilige wieder präsent zu machen, sei viel mehr geworden. Mystisch, spirituell und historisch habe man Wiborada ans Licht geholt. „Und es hat sich gezeigt, wie wertvoll so ein offenes und anonymes Fenster ist.“Das sei eine Lehre für die Seelsorge, möglichst niedrigsch­wellige Angebote zu machen. „Wir denken bereits nach dieser ersten Woche darüber nach, dass es gut wäre, dieses Projekt immer von Mai bis Juli fortzuführ­en“, sagt Hildegard Aepli. Bis zum Jahr 2026, wenn sich der Todestag von Wiborada zum 1100. Mal jährt.

Dass genügend Menschen bereit sind, sich auf dieses spirituell­e Experiment einzulasse­n, darauf deutet die konstant hohe Nachfrage nach Angeboten wie „Kloster auf Zeit“hin. Der Wunsch, aus der Hektik einer sich gefühlt immer schneller drehenden Welt für eine Weile auszutrete­n, spiegelt sich darin wider. Nicht nur – aber auch – für Menschen, die sich im erschöpfen­den Alltag selbst zu verlieren drohen, und auf der Suche nach Stille und Einkehr vor allem sich selbst in der Abgeschied­enheit wiederfind­en. Oder wie Hildegard Aepli es sagt, „sich von etwas berühren zu lassen, was größer ist als man selbst“.

Inklusin Hildegard Aepli

„Wenn Sie eine unfreiwill­ige

Isolation bejahen, kann daraus etwas sehr Kraftvolle­s

entstehen.“

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FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING (4) /WIKICOMMON­S „Sprechstun­de“mit der Inklusin: Mittags und spätnachmi­ttags ist das Fenster der Zelle eine Stunde lang geöffnet für Besucher und Gespräche. Abschließe­nd reicht Hildegard Aepli noch das gesegnete Brot.
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Hildegard Aepli im Gespräch mit Seelsorger Benjamin Ackermann.
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Die Inklusin beim Abschiedsg­ottesdiens­t vor dem Einschluss.
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