Die vergessene Pionierin
Wiborada war die erste Frau überhaupt, die offiziell heiliggesprochen wurde – Um sie in Erinnerung zu rufen, lassen sich zehn Menschen in St. Gallen einschließen
– Vielleicht ist diese verrückte Welt ja besser zu begreifen, wenn sie für eine Weile auf zwölf Quadratmeter zusammenschrumpft: Diese Grundfläche hat die Zelle aus Holz, in der sich bis Ende Juni jeweils für eine Woche zehn Männer und Frauen alleine einschließen lassen. Sie folgen damit dem Beispiel einer Heiligen, die vor 1000 Jahren in St. Gallen eingemauert als Einsiedlerin lebte. Und obwohl Wiborada im Jahre
1047 von Papst Clemens II. als erste Frau überhaupt offiziell heiliggesprochen wurde, kennt den Namen heute kaum jemand mehr.
Auch die St. Galler nicht: „Wie soll die heißen?“, fragt eine junge Frau in der Altstadt zurück, der beim Klang dieses Namens niemand einfällt. Unweit der Kirche St. Mangen, wo sich die extra für den Einschluss neu gebaute Zelle ans Gotteshaus schmiegt, sagt ein älterer Herr mit Rollator im schönsten Dialekt und nicht ohne Ironie: Es gebe so viele Heilige in St. Gallen, dass man unmöglich alle kennen könne.
Die ganz persönliche Mission von Hildegard Aepli, Wiborada aus der Vergessenheit – und also zurück ins Bewusstsein der St. Galler – zu holen, kommt demnach keinen Tag zu früh. Die 58-Jährige ist es auch, die sich als Erste in die Isolation begeben wird. In ein paar Minuten wird es so weit sein. Jetzt sitzt sie noch nahe dem Altar in der Kirche, ihr Patenkind Julio auf dem Schoß. Ein junger Mann mit Mikrofon erklärt den rund 50 Menschen im Kirchenschiff – mit Maske und großzügigem Abstand –, was gleich geschehen wird. Er heißt Benjamin Ackermann und gehört eigentlich zur mobilen City-Seelsorge der katholischen Kirchengemeinde. Doch die Kirche, in der er jetzt spricht, ist evangelisch – was ein starker Hinweis darauf ist, dass sich das Gedenken an Wiborada an keine konfessionelle Säule binden lässt. Gleich wird Ackermann Hildegard Aepli interviewen, die fast von innen heraus zu leuchten scheint.
Die historische Wiborada stammt aus einer vornehmen Thurgauer Familie. Der Legende nach soll sie schon als Kind heiligmäßig gelebt und Kranke gepflegt haben. Sie soll 150 Psalmen auswendig gelernt haben. Im Jahr 916 ließ sich die Frau vom Bischof auf Lebenszeit in einer Zelle der Kirche St. Mangen einschließen, um dort in Gebet und Meditation Gott zu dienen – aber auch den Menschen. Die Zelle von damals – ebenso wie der heutige Nachbau – hatte ein Fenster in den Kirchenraum und eines nach draußen in die Stadt. An diesem öffentlichen Fenster sollen die St. Galler Wiborada um Rat ersucht haben.
Sie nahm Fürbitten entgegen, erteilte aber auch Klerus und Adel Ratschläge. Und jeder, der ans Fenster kam, soll von ihrer kärglichen Speise ein Stückchen gesegnetes Brot erhalten haben. Warum die Einsiedlerin heiliggesprochen worden ist, liegt vor allem an einem ganz bestimmten Wunder, das sie bewirkt haben soll – dazu später mehr.
Heute, 1000 Jahre später, nimmt auch Hildegard Aepli Brot mit in ihre Zelle. Zwei Mädchen haben es jetzt in den Altarraum getragen, wo die Inklusin den Menschen in der Kirche etwas über ihre Motivation erzählt, warum sie der Heiligen in die Isolation nachfolgen will. Ein paar Tage zuvor erzählt die Theologin und Seelsorgerin im Telefoninterview, wie es überhaupt dazu kam, Wiborada aus einer für sie zwar nachvollziehbaren, aber eigentlich unverständlichen Versenkung zu holen. „Jemand hat mich gefragt, ob ich nicht etwas über Wiborada schreiben möchte.“All die Jahre zuvor sei diese besondere Frauenfigur nur so eine Art Schatten gewesen. Irgendwie da, aber alles andere als präsent. „Aber wie soll man etwas schreiben, wenn man gar nicht so richtig weiß, wie das gewesen sein muss“, erinnert sich Hildegard Aepli an den Moment, als sie beschlossen hat, Wiborada nachzufolgen, um es am eigenen Leib zu erfahren. Für die Tatsache, dass Wiborada ihre Prominenz als erste weibliche Heilige nicht vor dem Vergessen bewahrt hat, liefert Aepli eine einfache Erklärung:
„Es ist doch immer so: Eine patriarchalische Gesellschaft baut auf berühmten Männern auf.“Frauen würden systematisch vergessen. Insofern habe die Wiederentdeckung Wiboradas auch eine feministische Seite.
In der Kirche St. Mangen bittet Hildegard Aepli jetzt alle Menschen im Raum um ihren Segen. Die ausgestreckten Arme richten sich auf sie. Stille und eine wortlose Feierlichkeit
senken sich über die Inklusin, die nun schweigend den
Weg aus der Kirche hinausgeht. Um das Gebäude herum, bis sie vor dem hölzernen Anbau steht. Durch den Spalt der offenen Tür wird ein knallblaues Dixi Klo sichtbar. Innen ist alles in rohem Holz gestaltet: Bett, Tisch, zwei Stühle, ein rundum laufender, großer Vorhang, der das einzelne Fenster und die ohnehin schmalen Lichtluken bei Bedarf verhüllt. Von der Decke hängt an einem weißen Kabel eine einzelne Glühbirne über dem Tisch. Es gibt kein fließendes Wasser. Nur eine Waschschüssel. Gemeindemitglieder werden Hildegard Aepli morgens Brot und frisches Wasser durchs Fenster reichen, mittags eine warme Mahlzeit. Radfahren und Spazierengehen werde sie vermissen, hatte Aepli vorhin noch gescherzt. Nun betritt sie die Zelle – ein letztes Winken und ihr Neffe schließt die Tür und dreht den Schlüssel zweimal um. Nun liegen sieben Tage vor der Inklusin, die viel lesen und auch einige Psalmen auswendig lernen will, wie einst Wiborada. Dass es mit Ruhe und Stille in den nächsten Tagen nicht besonders weit her sein wird, weiß Hildegard Aepli an diesem sonnigen Samstag ihres Einschlusses noch nicht.
1000 Jahre zuvor lebte die Einsiedlerin Wiborada nicht nur in Gebete versunken in ihrer Zelle – Überlieferungen berichten auch von Visionen. Eine davon führt schließlich zur Heiligsprechung – aber auch in den Märtyrertod. Der Legende nach hat Wiborada in einer Vision den bevorstehenden Einfall der Ungarn in St. Gallen vorhergesehen und eindringlich davor gewarnt. Der Abt des Klosters, Engilbert, brachte daraufhin Frauen, Kinder und Greise außerhalb der Stadt in Sicherheit – unter anderem kamen die St. Galler in Booten auch über den Bodensee, um im heute bayerischen Wasserburg Zuflucht zu suchen. Wiborada selbst lehnte es aber ab, ihre Zelle zu verlassen – und bezahlte diese Entscheidung mit ihrem Leben. Bis zu ihrer Tötung durch das ungarische Reiterheer hatte sie zehn Jahre in der Zelle gelebt.
Vor der hölzernen Zelle des Jahres 2021 zerstreuen sich nun langsam die Gemeindemitglieder. Auch Maria Agatha Scheuber wird gleich aufbrechen, um am 19. Juni zurückzukehren. Um selbst für eine Woche in die Zelle zu gehen. Mit 87 Jahren ist die kleine Dame die älteste der zehn Inklusinnen und Inklusen. „Ich hatte immer schon eine Schwäche für Mystiker“, sagt Scheuber. Als sie den Aufruf zur Bewerbung für diese spezielle Auszeit in der Isolation gelesen habe, sei gleich klar gewesen: „Das mache ich!“Am meisten sei sie gespannt darauf, ob sie sich selbst aushalten könne. Denn das Wesentliche, das die St. Gallerin mit in die Zelle nehme, sei ja sie selber. Sie spüre eine gewisse Spannung im Hinblick auf das Einsiedlertum. „Ich nehme Handarbeit mit“, sagt Maria Agatha Scheuber. Und das Neue Testament sowie ein Tagebuch, das ihre Erfahrungen während dieser Zeit aufnehmen soll. Die Tagebücher gehen später ein in die berühmte Handschriftensammlung des Klosters St. Gallen.
Eine ganze Reihe von Veranstaltungen werden die Figur Wiborada in den kommenden Wochen bis
3. Juli ins Zentrum stellen und diesen spirituellen und historischen
„St. Galler Schatz“heben, wie Hildegard Aepli kurz vor ihrem Einschluss sagte. Ein Stationenweg in und um die Kirche St. Mangen erzählt die Geschichte der Heiligen. Führungen und Lesungen sind geplant. Das eigens in die Kirchenmauer geschlagene Fenster ist zum Altarraum hin mit einem Gitter versehen. Neben ihm liegt Papier aus, auf das Gläubige ihre Fürbitten und Anliegen notieren können. Hildegard Aepli und die Menschen, die ihr nachfolgen werden, sollen diese Notizen in ihre Gebete einschließen.
Zwei Tage nach dem Einschluss ist Hildegard Aepli wohlauf – während der täglich zwei Stunden, an denen das Fenster zur Stadt geöffnet ist, bilden sich bisweilen sogar kleine Schlangen von Menschen, die mit der Einsiedlerin sprechen möchten. „Bei dem Andrang ist natürlich wenig Zeit für tiefere Gespräche“, sagt eine offensichtlich bestens gelaunte Inklusin. Bisher gehe es ihr gut in der Zelle, sie schreibe Tagebuch, lese und bete. Von der ersehnten Ruhe könne in der Holzzelle allerdings keine Rede sein. Der Verkehrslärm der unweit verlaufenden Hauptstraße dringt fast ungefiltert durch die Wände. Deswegen aber das Handtuch werfen und die Zelle vorzeitig verlassen – das kommt für Aepli nicht infrage. Aber wie kann jemand eigentlich überhaupt auf die Idee kommen, in der Zeit der Pandemie und der damit verbundenen unfreiwilligen Isolation, sich ohne Zwang noch stärker von der Welt zurückzuziehen? Sie noch einmal zu schrumpfen auf zwölf Quadratmeter? Für die Inklusin Hildegard Aepli ist dieser Schritt kein CoronaParadox, ganz im Gegenteil. Sie sagt: „Dieses Projekt hat die Botschaft, dass Menschen reiche Ressourcen in sich tragen. Wenn Sie eine unfreiwillige Isolation bejahen, kann daraus etwas sehr Kraftvolles entstehen.“Etwas, das stark mache und über das Irdische hinausgehe. Nicht nur für schlechte Corona-Zeiten, sondern für das Leben selbst.
Eine Woche später – Hildegard Aepli ist wieder in die Welt zurückgekehrt – zieht sie Bilanz:
137 Menschen sind ans offene Fenster gekommen, fast 50 Fürbitten haben Menschen in die Fensterverbindung im Altarraum gelegt. Aepli hat sie in ihre Gebete eingeschlossen. Sie zeigt sich überwältigt: „Die wichtigste Erfahrung ist, dass das Projekt, das wir losgetreten haben, eine weit größere Dimension anrührt und Menschen stärker bewegt, als wir uns das hätten vorstellen können.“Aus dem Plan, eine vergessene Heilige wieder präsent zu machen, sei viel mehr geworden. Mystisch, spirituell und historisch habe man Wiborada ans Licht geholt. „Und es hat sich gezeigt, wie wertvoll so ein offenes und anonymes Fenster ist.“Das sei eine Lehre für die Seelsorge, möglichst niedrigschwellige Angebote zu machen. „Wir denken bereits nach dieser ersten Woche darüber nach, dass es gut wäre, dieses Projekt immer von Mai bis Juli fortzuführen“, sagt Hildegard Aepli. Bis zum Jahr 2026, wenn sich der Todestag von Wiborada zum 1100. Mal jährt.
Dass genügend Menschen bereit sind, sich auf dieses spirituelle Experiment einzulassen, darauf deutet die konstant hohe Nachfrage nach Angeboten wie „Kloster auf Zeit“hin. Der Wunsch, aus der Hektik einer sich gefühlt immer schneller drehenden Welt für eine Weile auszutreten, spiegelt sich darin wider. Nicht nur – aber auch – für Menschen, die sich im erschöpfenden Alltag selbst zu verlieren drohen, und auf der Suche nach Stille und Einkehr vor allem sich selbst in der Abgeschiedenheit wiederfinden. Oder wie Hildegard Aepli es sagt, „sich von etwas berühren zu lassen, was größer ist als man selbst“.
Inklusin Hildegard Aepli
„Wenn Sie eine unfreiwillige
Isolation bejahen, kann daraus etwas sehr Kraftvolles
entstehen.“