Eiskalt erwischt
Versicherungen nehmen Obstbauern im Südwesten die Angst vor den immer häufiger auftretenden Spätfrösten
- Mit prüfendem Blick macht Karl-Heinz Kreidler vor einem Apfelbaum halt, greift sich ein Blütenbüschel und reißt ihn vom Ast. Mit einer Nagelschere schneidet der Obstbauexperte die fünf Blüten jeweils am Fruchtknoten ab und begutachtet die Schnittstelle. Was er sieht, gefällt ihm nicht. In der Mitte der aufgeschnittenen Fruchtknoten, aus dem später einmal das Fruchtfleisch des Apfels entsteht, zeichnet sich ein winziger brauner Punkt ab. Für den Sachverständigen der Vereinigten Hagelversicherung (VH) ein untrügliches Zeichen, dass Frost den Blüten den Garaus gemacht hat.
Ein zweiter Blütenbüschel, vom oberen Drittel des Baumes entnommen, offenbart ein nicht ganz so schwerwiegendes Schadensbild. Nur zwei von fünf Blüten dieses Büschels sind erfroren. „Schwerer Schaden im unteren Bereich, mittlerer Schaden im oberen Bereich“, diktiert Kreidler seinem Kollegen Bernhard Nanz in den Laptop, der im Anschluss noch ein Bild des Corpus Delicti macht.
Dietmar Rist sieht dem Treiben der beiden Gutachter etwas abseits schweigend zu. Es ist seine Kultur, in der die Sachverständigen gerade versuchen, sich einen Überblick über die Anfang April vom Frost verursachten Schäden zu verschaffen. Und es ist ein heikler Moment. Denn die Einschätzung von Kreidler und Nanz bestimmen mit über das wirtschaftliche Wohl und Wehe des Obstbaubetriebes von Rist aus Meckenbeuren (Landkreis Ravensburg). Sie liefern die Grundlage dafür, ob und wenn ja wie viel Geld die Vereinigte Hagelversicherung Rist am Ende der Erntesaison aus seiner Frostschutzpolice überweisen wird.
Landwirt Rist ist einer von 1290 Obst- und Weinbauern in BadenWürttemberg, die im vergangenen Jahr beim Pilotprojekt „Ertragsversicherung Obst- und Weinbau“teilgenommen und eine Police gegen Wetterrisiken wie Starkfrost, Sturm und Starkregen abgeschlossen haben. Nach den verheerenden Frostnächten im Frühjahr 2017, die den Landwirten im Südwesten erhebliche Ernteausfälle gebracht und das Land rund 50 Millionen Euro an Soforthilfen gekostet haben, hatte sich Landwirtschaftsminister Peter Hauk (CDU) für eine Kofinanzierung bei Ein- und Mehrgefahrenversicherungen im Obst- und Weinbau starkgemacht. Erstmals im vergangenen Jahr konnten Landwirte Zuschüsse von 50 Prozent der Versicherungsprämie beantragen, woraufhin die Assekuranz entsprechende Versicherungsprodukte entwickelte und Deckungszusagen vor allem für Frostrisiken gab. Nach Informationen aus Haucks Ministerium wurden rund drei Millionen Euro an die Landwirte ausgezahlt.
Dietmar Rist, der seinen Obstbaubetrieb in dritter Generation umtreibt und auf rund 15 Hektar Fläche Kern- und Steinobst anbaut, lässt die Frostversicherungspolice der Vereinigten
Hagelversicherung im Frühling wieder „ruhiger schlafen“, wie er sagt. Das war in den vergangenen Jahren häufig nicht der Fall, denn es gab kaum ein Frühjahr ohne Spätfröste. „Nennenswerte Frostschäden hatten wir in den Jahren 1977, 1981 und 1991“, berichtet Rist, „und dann wieder 2016, 2017, 2019, 2020 und 2021.“
Vor allem 2017 ist ihm noch in unguter Erinnerung. „Damals waren alle Apfelblüten erfroren und die Erntemenge lag bei nicht einmal 30 Prozent der Vorjahre“, sagt der Landwirt über das Jahr, das ihn und seine Familie „an die Belastungsgrenze“gebracht hat und in dem er sich das ein oder andere Mal dabei ertappt hat „die Stellenanzeigen in der Zeitung durchzublättern“– auf der Suche nach einem weniger aufreibenden und wirtschaftlich riskanten Job. Übers Herz gebracht hat er es aber dann doch nicht – zu stark war die Bindung zu Hof und Beruf. Dass es beim Status quo aber nicht bleiben konnte, war Rist klar.
„Ich habe damals mit dem Bau einer Frostberegnung geliebäugelt“, sagt der Landwirt, „musste den Plan aus Kostengründen aber wieder verwerfen.“Denn seine Obstflächen liegen im Landschaftsschutzgebiet. Den Bau eines Rückhaltebeckens für das benötigte Wasser hätte er mit Ökopunkten ausgleichen müssen, was die Kalkulation zerschossen hat. Und selbst wenn er das Projekt finanziell hätte stemmen können: Schon in diesem Jahr hätte sich das ursprünglich angedachte Beckenvolumen von 12 000 Kubikmetern Wasser als zu klein erwiesen. „Das reicht nämlich nur für vier Frostnächte, in denen ja ununterbrochen beregnet werden muss. Im März und April dieses Jahres hatten wir aber neun“, berichtet Rist.
Nach Aussage von Rainer Langner, Chef der Vereinigten Hagelversicherung, wartete 2021 mit dem frostreichsten April seit 1929 auf. In BadenWürttemberg beliefen sich die Schadensmeldungen bei den von der VH versicherten Flächen auf 2450 Hektar bei Obst und auf 2400 Hektar bei Wein. Besonders betroffen: das Dreieck zwischen Stuttgart, Heilbronn und Karlsruhe, der Oberrheingraben und die Bodenseeregion. Aktuell kalkuliert die VH mit Frostschäden von 75 Millionen Euro im Südwesten – vor allem bei Stein- und Kernobst. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr haben alle Versicherer zusammen für Frostschäden nur 40 Millionen Euro im Südwesten ausgezahlt.
Profitabel ist das für die Assekuranz bislang nicht. Die Vereinigte Hagelversicherung, mit einem Anteil von über 60 Prozent Marktführer, hatte 2020 für das Wetterrisiko Frost das Dreifache ihrer Prämieneinnahmen ausgeschüttet und daraufhin die Prämien um bis zu 20 Prozent angehoben. Für dieses Jahr – so viel zeichnet sich ab – wird die Situation nicht besser, die Prämien, die die Landwirte zahlen müssen, dürften also weiter steigen. Unternehmenschef Langner betonte im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, trotz des schadenträchtigen Starts in Deutschland weiterhin Deckungszusagen für Frostschutzrisiken geben zu wollen. Er machte aber deutlich, dass das auch vom Engagement von Bund und Ländern abhängt und verwies auf die Praxis in anderen EU-Staaten, wo bis zu 70 Prozent der Versicherungsprämien aus nationalen Fördertöpfen beglichen werden.
Dass die staatlich gestützte Versicherungslösung den Nerv vieler Obst- und Weinbauern im Südwesten trifft, zeigen aktuelle Zahlen. Im zweiten Jahr des Pilotprojekts ist die Zahl der antragstellenden Betriebe um 250 gestiegen, die Antragsfläche hat um zwölf Prozent auf 15 800 Hektar zugelegt. Zusammen mit den deutlich höheren Versicherungsprämien steigt daher auch der Bedarf an Fördermitteln. In Stuttgart ist man dennoch zuversichtlich, dass die zur Verfügung stehenden Gelder ausreichen werden. Im gerade verabschiedeten Koalitionsvertrag zwischen Grünen und CDU einigten sich die Regierungspartner zudem darauf, „das bewährte Modellprojekt“fortzuführen und es „bei einer Beteiligung des Bundes“zu einer vollständigen Mehrgefahrenversicherung zu erweitern.
Franz Josef Müller, Präsident des Landesverbandes Erwerbsobstbau Baden-Württemberg, fordert genau das ein. „Wir brauchen die Beihilfen und wir brauchen eine Beteiligung vom Bund“, sagt der oberste Obstbauer im Südwesten. Denn die Branche rechnet mit einer Verschärfung der Spätfrostproblematik in den kommenden Jahren. Wegen des Klimawandels beginnt die Vegetationsperiode im Obst- und Weinbau immer früher, was die Bäume, Sträucher und Rebstöcke empfindlicher für Spätfröste macht.
Obstbauer Rist hat das in den vergangenen Jahren leidvoll erfahren. Und er ist froh um die Möglichkeit, existenzgefährdende Wetterrisiken versichern zu können. Wie groß die Frostschäden in diesem Jahr sind, werden final erst die nächsten Monate zeigen. Nach Einschätzung der beiden VH-Sachverständigen KarlHeinz Kreidler und Bernhard Nanz haben zwar nur 20 bis 25 Prozent der Apfelblüten in Rists Kulturen den kalten April überlebt. Auch in den Kirsch- und Birnenkulturen sieht es nicht besser aus. Bei idealen Witterungsbedingungen im weiteren Jahresverlauf könne diese Quote aber für einen normalen Ernteertrag ausreichen, erklärt Kreidler. Ob dem so ist, wird das Endgutachten in Meckenbeuren zeigen – zwei bis vier Wochen vor der Ernte. Dann müssten 100 bis 120 Äpfel an jedem Baum hängen. Bei einer deutlich geringeren Anzahl oder bei durch den Frost verkrüppelten Früchten wird die Vereinigte Hagelversicherung ihre Geldschatullen öffnen und Obstbauer Rist einen großen Teil seines wirtschaftlichen Schadens ersetzen.