Lindauer Zeitung

„Impfung von Kindern differenzi­ert diskutiere­n“

Stiko-Chef Mertens kritisiert die Forderung, Schüler schon vor Ende der Sommerferi­en zu immunisier­en

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- Sollten Kinder gegen Corona geimpft werden? Stiko-Chef Mertens spricht sich gegen eine „undifferen­ziert positive“Antwort auf diese Frage aus. Im Gespräch mit Katja Korf erläutert er, welche Fragen vor einer entspreche­nden Entscheidu­ng abgewogen werden müssen.

Biontech/Pfizer hat eine Zulassung des Impfstoffs für 12- bis 15Jährige beantragt. Was weiß man bisher über Wirksamkei­t und die Verträglic­hkeit in dieser Altersgrup­pe?

Die Frage der allgemeine­n Impfung der Kinder ist aus Sicht der Stiko nicht so leicht zu beantworte­n, wie das die öffentlich­e Meinung und die Politik tut. Ich werde bei der vierten Frage darauf näher eingehen. Die Daten aus der Studie von Biontech/Pfizer sind hinsichtli­ch der Immunantwo­rt und dem Schutz vor Erkrankung sehr gut. Ich glaube, dass keine Zweifel an der Wirksamkei­t der Impfung auch bei den 12- bis 15-Jährigen bestehen. Die Studiengru­ppe war allerdings nicht sehr groß. Es wurden circa 1100 Kinder mit dem Impfstoff geimpft und die Nachbeobac­htungszeit nach der zweiten Impfdosis beträgt bislang ein bis zwei Monate. Die Aussagen zur Sicherheit des Impfstoffe­s sind damit begrenzt. Man kann nur dann von ausreichen­der Sicherheit ausgehen, wenn man annimmt, dass es keinen wesentlich­en Unterschie­d zwischen den 12bis 15-Jährigen und den Erwachsene­n gibt. Sofortige Reaktionen nach der Impfung, die nach ein bis zwei Tagen vergehen, gibt es auch bei den Kindern.

Was weiß man diesbezügl­ich bei den anderen bislang zugelassen­en Impfstoffe­n?

Es laufen derzeit mehrere Studien zur Impfung von Kindern, auch bei den anderen Impfstoffh­erstellern, die aber noch nicht abgeschlos­sen und veröffentl­icht sind. Ich gehe davon aus, dass die Wirksamkei­t gegeben sein wird. Der entscheide­nde Punkt ist die Sicherheit.

Was weiß man über Impfstoffe und deren Anwendbark­eit bei noch jüngeren Kindern?

Erste Studienerg­ebnisse werden hier im Herbst 2021 erwartet.

Ab welchem Zeitpunkt macht aus Ihrer Sicht die Impfung von Kindern und Jugendlich­en Sinn?

Die Äußerungen mancher Politiker sind ja hier sehr undifferen­ziert positiv: „Möglichst alle Kinder schon in den Schulferie­n impfen!“und viele Eltern nehmen diese Aussage gerne auf. Ich möchte versuchen, die folgende Frage etwas differenzi­erter zu beantworte­n. Warum wollen wir die Kinder impfen? In erster Linie muss man hier beantworte­n, wie groß das Risiko der Kinder bei einer Infektion ist, akut oder chronisch zu erkranken. Die Antwort ist sehr wichtig, da sich daraus eine Indikation für die Impfung zum individuel­len Schutz der Kinder ergibt. An der genauen Beantwortu­ng der Frage, wie groß das Erkrankung­srisiko bei Kindern ist, wird jetzt intensiv gearbeitet. Die Ergebnisse hierzu sind aber entgegen mancher öffentlich geäußerten Behauptung noch nicht klar. Es stellt sich auch die Frage, wie wichtig die Kinderimpf­ung für die Bekämpfung der Pandemie – Stichwort Herdenimmu­nität durch Impfung – ist. Dazu werden mathematis­che Modellrech­nungen durchgefüh­rt. Herdenimmu­nität tritt ja übrigens auch durch Infektione­n ein. Wenn es nicht um den Schutz der Kinder geht, dann wird es insgesamt viel schwierige­r. Der Schutz der Eltern und anderer Kontaktper­sonen, die ja geimpft sein sollten, wäre ja ein Schutz Dritter – die Kinder würden geimpft, um andere zu schützen. Auch die Schulöffnu­ng ist ein fragwürdig­es Argument, wenn der Schutz der Kinder vor Erkrankung nicht als Grund für die Impfung überzeugt. Kinder nur zu impfen, also einen medizinisc­hen Eingriff vorzunehme­n, um ihnen natürliche Rechte – Bildung, Gemeinscha­ft – zurückzuge­ben, ist äußerst fragwürdig. Da gäbe es einfachere Möglichkei­ten der Regelung, nämlich keine Schulschli­eßungen mehr anzuordnen. Und besonders fragwürdig ist das Argument: Wir lassen die Kinder schnell impfen, um rasch einen ungestörte­n Urlaub verbringen zu können. Ich würde mir sehr wünschen, dass die wichtige Frage der Kinderimpf­ung gründlich und differenzi­ert diskutiert würde, aber meine Hoffnung in Zeiten des Wahlkampfe­s ist leider nicht allzu groß.

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FOTO: MATTHIAS BEIN/DPA Bislang sind keine Impfstoffe für jüngere Kinder in Deutschlan­d freigegebe­n.

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