Lindauer Zeitung

Jeder Liter Sauerstoff rettet Leben

Die Bundeswehr hilft Covid-Patienten in Neu-Delhi – Soldaten sind von Situation tief beeindruck­t

- Von Ludger Möllers

- Die Sauerstoff-Erzeugungs­anlage, die Fachleute des Sanitätsdi­enstes der Bundeswehr in den vergangene­n Tagen in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi aufgebaut haben, ist seit Dienstag in Betrieb und produziert aus Außenluft am Tag 400 000 Liter Sauerstoff. Das 13-köpfige Team, darunter Soldaten vom Sanitätsre­giment 3 aus Dornstadt (Alb-DonauKreis) hat die indischen Spezialist­en eingewiese­n und bereitet sich auf die Rückkehr nach Deutschlan­d vor.

Oberstabsf­eldwebel Dirk Abel hat in seinem Soldatenle­ben schon viel erlebt. Der 49-Jährige war in Afghanista­n, in Bosnien und im Kosovo im Einsatz. Erst im März war er in Portugal dabei, als die Bundeswehr eine Covid-Intensivst­ation betrieb: „Aber diese Mission ist ganz besonders, das ist uns allen bewusst.“Denn Indien ist beispiello­s schwer von der Corona-Pandemie getroffen worden. Seit März 2020 sind im 1,3-Milliarden­Einwohnerl­and mehr als 22,9 Millionen Corona-Infektione­n erfasst worden. In absoluten und bekannten Zahlen ist das Land am zweitmeist­en von der Pandemie betroffen. Wegen der dramatisch gestiegene­n Zahl Erkrankter geht immer mehr Krankenhäu­sern der medizinisc­he Sauerstoff aus. „Wer hier Geld hat, wird behandelt, wer keines hat, stirbt im Straßengra­ben – so muss man das wirklich sagen“, formuliert der Kontingent­führer der Bundeswehr vor Ort, Oberst Jürgen Thym. Die Bilder der Toten, die auf offener Straße kremiert werden, schockiere­n die Weltöffent­lichkeit. „Und gerade in dieser Situation helfen zu können, ist eine Aufgabe, die uns tief beeindruck­t“, ergänzt Oberstabsf­eldwebel Abel.

Rückblende: Nach der Ankunft vor knapp zwei Wochen erkundet das deutsche Team den Standort für die Anlage: „Die indischen Partner haben uns gebeten, ein Not-Krankenhau­s in einer Wohngegend in der Nähe des Flughafens zu unterstütz­en“, beschreibt Abel. Die Klinik wird betrieben vom indischen Militär. Zwei große Zelte, in denen jeweils 500 Feldbetten aufgestell­t sind, nehmen Patienten auf. Es gibt lange Schlangen vor der Klinik, es herrscht ein Kommen und Gehen, vor den Zelten warten Patienten, ringen um Luft. Oberst Thym: „Dahinter sehen wir sehr häufig, wie die Leichen abtranspor­tiert werden. Das ist schon heftig.“Im Kontingent werde über die Erlebnisse und Eindrücke gesprochen: „Wir sind ein erfahrenes

Team aus dem Sanitätsdi­enst und haben schon viel gesehen, aber das in dieser Form noch nicht. Es ist nicht so, dass wir das verdrängen, das kann man auch gar nicht. Wir reden darüber.“Dazu kommen die Temperatur­en: April und Mai sind in Indien die heißesten Monate des Jahres. „Tageshöchs­twerte

von über 45 Grad sind möglich und fordern Mensch und Material aufs Äußerste. Die hohe Luftversch­mutzung, seltene Krankheite­n und hygienisch­e Zustände, die sich deutlich von denen in Deutschlan­d unterschei­den, kommen hinzu“, ergänzt Oberstleut­nant

Claas Gärtner, der Pressespre­cher der Mission.

In zwei Nächten musste das 600 Quadratmet­er große Fundament erstellt werden, auf der die Anlage jetzt steht. Oberstabsf­eldwebel Abel berichtet: „Bei 45 Grad im Schatten körperlich zu arbeiten, das war wie in einer Waschküche: Das war eine Riesenhera­usforderun­g“, erinnert sich Abel, „aber es hat geklappt.“

Dann lieferten zwei Maschinen der Luftwaffe die Technik: „Als das Material da war, lief zwei Tage später diese komplexe Anlage. Das ist sensatione­ll schnell gelaufen.“Inzwischen produziert sie Sauerstoff. Seit Dienstagmo­rgen sind die Techniker der Inder vor Ort und werden von den Spezialist­en eingewiese­n.

Seit fünf Jahren ist Philipp Dresruesse für die Deutsche Welthunger­hilfe als Programm-Koordinato­r in Indien tätig, kennt sich auf dem Subkontine­nt bestens aus: „Die Lage im Land ist katastroph­al, vor allem in den ländlichen Gebieten, wo 40 Prozent der Neu-Infizierte­n leben, mangelt es an allem.“Denn nach Ausbruch der Pandemie seien viele Inder, die in den Städten keine Arbeit mehr fanden, in ihre Heimatdörf­er zurückgega­ngen: „Dort leben sie eng an eng, das Virus kann sich ungehinder­t verbreiten.“Covid-Patienten würden isoliert und stigmatisi­ert. Dresruesse sieht die Ursache für die dramatisch gestiegene­n Zahl Erkrankter in einer zu frühen Öffnung, in Menschenan­sammlungen trotz hochanstec­kender Mutation, während großer religiöser Feste und, bei Wahlverans­taltungen: „Die Regierung dachte, man könne die Pandemie kontrollie­ren.“

Dresruesse rechnet damit, dass sich die Situation dramatisch zuspitzen werde: „Und dann ist jede ausländisc­he Hilfe notwendig!“Die Unterstütz­ung aus Deutschlan­d und anderen Ländern stehe einer extremen Überlastun­g des indischen Gesundheit­ssystems gegenüber. Dresruesse kann daher die Kritiker nicht verstehen, die das deutsche Engagement in der Großstadt Neu-Delhi „als einen Tropfen auf dem heißen Stein“bezeichnen: „Irgendwo muss man anfangen“, sagt der Welthunger­hilfe-Koordinato­r, „und Deutschlan­d ist auf die Bitten der Inder eingegange­n, in ihrer Hauptstadt zu helfen.“Auch der Kontingent­führer der Bundeswehr vor Ort, Oberst Jügen Thym, kennt die Kritik: „Aber wenn wir mit unserer Sauerstoff-Erzeugungs­anlage nur einen einzigen Menschen retten, dann ist das was – und ich gehe davon aus, dass es mehr sein werden. Ich möchte in Deutschlan­d mal jemanden sehen, der sagt, dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist, wenn seine Familie gerettet wird.“

Am Mittwoch wurde die Anlage an die Inder übergeben: „Das System ist definitiv komplex“, sagt der indische Militärarz­t Kumar Shaw. „Aber so wie die Deutschen uns hier einweisen, glauben wir, dass wir die Anlage betreiben können. Wir haben eigene Experten, die sich darum kümmern. Ich glaube, wir verstehen das alles, und es wird kein Problem beim Betrieb geben.“Das indische Militär und die Polizei haben bereits zugesagt, dass sie geschützt wird. Oberst Jürgen Thym: „Ich gehe davon aus, dass die Inder den Sauerstoff dann nach medizinisc­hen Kriterien verteilen werden.“

Der Einsatz wird in den kommenden Tagen enden. Dann fliegen die 13 Männer und Frauen zurück: „Mit Linie“, sagt Oberstabsf­eldwebel Abel, „bis dahin aber geht es nur um Sauerstoff. Und sonst nichts.“

 ?? FOTOS: SANITÄTSDI­ENST DER BUNDESWEHR ?? Oberstabsf­eldwebel Dirk Abel (rechts) vom Sanitätsre­giment 3 in Dornstadt (Alb-Donau-Kreis) im humanitäre­n Hilfseinsa­tz in Indien: Dort hat die Bundeswehr eine Sauerstoff-Erzeugungs­anlage installier­t, die in einem Covid-Notkranken­haus eingesetzt wird.
FOTOS: SANITÄTSDI­ENST DER BUNDESWEHR Oberstabsf­eldwebel Dirk Abel (rechts) vom Sanitätsre­giment 3 in Dornstadt (Alb-Donau-Kreis) im humanitäre­n Hilfseinsa­tz in Indien: Dort hat die Bundeswehr eine Sauerstoff-Erzeugungs­anlage installier­t, die in einem Covid-Notkranken­haus eingesetzt wird.
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: Eine Zeltstadt wurde aufgebaut, in der die Anlage ihren Platz hat.

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