Warum Corona den Frauennotruf ausbremst
Präventive Arbeit seit Pandemie-Beginn komplett ausgefallen
- „Wenn du Hilfe brauchst, sind wir da.“Dieses Credo verfolgt der Frauennotruf Kempten seit über 20 Jahren. Und es steht auch für das neue Team rund vom Petra v. Sigriz als oberste Maxime über ihrer Arbeit. Und das, obwohl die Corona-Pandemie diese Arbeit teilweise massiv erschwert. Denn die Prävention, die vorbeugende Arbeit in Kitas und Schulen, ist seit Beginn der Pandemie so gut wie nicht mehr möglich. Dabei findet Missbrauch auch in Corona-Zeiten statt, wie die Jahresbilanz zeigt.
Nicht nur der Ausbruch der Corona-Pandemie hat das Team des auch für den Landkreis Lindau zuständigen Frauennotrufs im vergangenen Jahr massiv ausgebremst. Es gab auch einige personelle Veränderungen im Team. Denn mit Ilona Braukmann ist eine der beiden Mitbegründerinnen dieses Hilfsangebots für missbrauchte und misshandelte Frauen und Kinder nach 26 Jahren Notrufarbeit ausgeschieden.
Für ihre langjährige Kollegin Petra v. Sigriz, die vor allem Ansprechpartnerin für Menschen im Westallgäu und im Lindauer Raum ist, bedeutete Braukmanns Ausscheiden im vergangenen Jahr einiges an Mehrarbeit: Sie musste langjährige Klientinnen auffangen, aber auch neue Anfragen annehmen.
Immerhin ist das Team nun seit Herbst wieder komplett: Für Braukmann ist die junge Kollegin Susanne Seidel gekommen, die schon während ihres Studiums der Sozialwissenschaften ein mehrmonatiges Praktikum im Frauenotruf absolviert und dabei sowohl an Workshops teilgenommen hat als auch an Therapiegesprächen. Sie arbeitet nun mit einer Vollzeitstelle in der Fachberatungsstelle, die von der Arbeiterwohlfahrt getragen wird.
Neben Betriebswirtin Isabelle Barnsteiner, die sich um alles Organisatorische kümmert, ist auch die Heilpädagogin, Bindungs- und Familientherapeutin Antje Weinreich neu im Team: Sie ist speziell für die präventive Arbeit eingestellt worden. Denn Kindern in Kitas und Grundschulen deutlich zu machen „Wir sind für euch da“, sieht der Frauennotruf als zweite Hauptaufgabe an.
Die allerdings ist durch den Ausbruch der Corona-Pandemie vor mehr als einem Jahr praktisch komplett ausgebremst worden: Seine Workshops gegen sexuelle Gewalt hat das Notrufteam alle absagen müssen. „Bis Ende des Jahres konnten unsere Präventionskurse in Kindergärten
und Schulen nicht mehr aufgenommen werden“, heißt es in der Jahresbilanz. Was nach Ansicht von Petra v. Sigriz drastische Auswirkungen haben kann, wie sie im Gespräch mit der LZ sagt.
„Die Kurse sind wichtig, weil wir dort Vertrauen zu den Kindern aufbauen und ihnen damit mitgeben, dass und wo sie sich im Notfall Hilfe holen können“, betont die Fachfrau. Und schildert, dass „sich am Ende eines Kurses immer wieder Kinder öffnen und uns Dinge aus dem häuslichen Umfeld berichten“.
Das wäre im vergangenen Jahr nach den Worten von v. Sigriz umso wichtiger gewesen, weil die Mädchen und Buben in Zeiten geschlossener Kitas und Schulen kaum noch Kontakte nach außen gehabt hätten. „Es muss ja nicht immer Missbrauch sein“, hebt die Fachfrau dazu hervor. Auch häusliche Gewalt oder andere familiäre Probleme belasteten Kinder, wie sie in den Vorjahren immer wieder erlebt habe.
Umso mehr bedauert v. Sigriz, dass der Notruf für dieses Schuljahr alle Präventionsworkshops streichen musste. „Das wird Folgen haben“, ist sie überzeugt, auch wenn „wir die Auswirkungen erst später zu spüren bekommen.“
Schon jetzt spürt das Notrufteam: Corona bremst das öffentliche Leben – nicht aber die Gewalt. Von den insgesamt im vergangenen Jahr erfassten gut 1050 Klientinnen und Anrufenden kam immerhin die Hälfte aus dem Kreis Lindau. Aus der gesamten Region waren darunter 229 Betroffene, die im Notruf Rat suchten. Etwas mehr als ein Viertel davon hat Lindau als Herkunftsort angegeben. 25 von diesen Betroffenen benötigen eine längerfristige therapeutische Begleitung, so die Jahresbilanz. Nur in diesem Punkt hinterließ Corona einen kleinen Lichtblick: Weil die Workshops ausfielen, hatte v. Sigriz so etwas mehr Luft, um solche Beratungen zeitnah zu starten.
Petra v. Sigriz
Insgesamt haben im vergangenen Jahr 38 Frauen und 24 Mädchen aus dem Landkreis Lindau sexuelle Gewalt erlebt, aber auch vier Buben und ein Mann gehörten laut Bilanz zu den Opfern. Soweit Bezugspersonen sich beim Notruf meldeten, sind es in zwei von drei Fällen die Mütter gewesen.
Wichtig ist nach v. Sigriz Worten auch im Corona-Jahr 2020 die gute Vernetzung des Frauennotrufs gewesen: „Sie ist für unsere Arbeit unerlässlich.“Dazu zählt inzwischen übrigens auch eine neue gestaltete Internetseite. Dort bietet das Team jetzt in kurzen Sequenzen auch jene Informationen an, die es normalerweise an Elternabenden in Kitas und Schulen weitergibt. Denn das Hauptmotto der Beratungsstelle bleibe auch in Zeiten der Corona-Pandemie aktuell: „Wenn du Hilfe brauchst, sind wir da.“
„Die Kurse sind wichtig, weil wir dort Vertrauen zu den Kindern aufbauen.“
Fachberaterin
Telefonisch ist der Frauennotruf Kempten im Notfall immer erreichbar, und zwar über die Mobilfunknummer 0171 / 537 33 96. Beraterin Petra v. Sigriz ruft in dringenden Fällen die Anrufenden zeitnah zurück.