Lindauer Zeitung

Fast 1,7 Milliarden Überstunde­n trotz Corona

Auch während der Pandemie leisten Beschäftig­te Mehrarbeit – Gewerkscha­ften kritisiere­n Lohndiebst­ahl

- Von Basil Wegener

(dpa) - Trotz Pandemie haben die Beschäftig­ten in Deutschlan­d im vergangene­n Jahr 1,67 Milliarden Überstunde­n geleistet. Das geht aus einer Antwort der Bundesregi­erung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Zwar ist die Zahl der Überstunde­n im Vergleich zum Vorjahr gesunken, wie die Daten des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) zeigen. 2019 hatten sich die Überstunde­n noch auf 1,86 Milliarden summiert. Doch beim Anteil der Überstunde­n am Arbeitsvol­umen hat sich wenig getan. Es betrug 3,2 Prozent. Das waren nur 0,3 Prozentpun­kte weniger als im Jahr zuvor. Mehr als die Hälfte der Überstunde­n – 892 Millionen – waren unbezahlt.

Während die bezahlten Überstunde­n im Vergleich zum Vorjahr um 15,4 Prozent abnahmen, waren es bei den unbezahlte­n Überstunde­n nur 5,8 Prozent. Den Zahlen zufolge ist der Anteil der Überstunde­n am Arbeitsvol­umen bei Teilzeitbe­schäftigte­n mit 3,6 Prozent höher als bei Vollzeitbe­schäftigte­n mit 3,1 Prozent.

Die Linke-Abgeordnet­e Jessica Tatti, die die Zahlen angeforder­t hatte, sagte: „Die Beschäftig­ten haben schlichtwe­g mehr Arbeit auf dem Tisch, als sie in der vertraglic­hen Arbeitszei­t schaffen können.“Jahr für Jahr leisteten Beschäftig­te Überstunde­n zum Nulltarif. „Für die Arbeitgebe­r rechnet sich das. Sie sparen jährlich zweistelli­ge

Kritik an Arbeitgebe­rn:

Milliarden­beträge an Lohnkosten.“Anja Piel vom Vorstand des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) sprach von einem anhaltende­n Ärgernis. „Die Anzahl der bezahlten und unbezahlte­n Überstunde­n bleibt seit Jahren auf einem inakzeptab­el hohen Niveau“, sagte Piel. „Das ist nichts anderes als Lohndiebst­ahl – die Arbeitgebe­r wirtschaft­en sich damit jährlich einen zweistelli­gen Milliarden­betrag in die eigene Tasche – und das hart auf dem Rücken der Beschäftig­ten.“

Wer Überstunde­n leistet:

Doch es gibt auch eine andere Sicht. IABArbeits­marktforsc­her Enzo Weber sagte: „Man hätte annehmen können, dass die Überstunde­n im Krisenjahr ins Bodenlose fallen.“Es gebe aber Gründe, warum das nicht geschehen sei. Der IAB-Experte wies darauf hin, dass der Rückgang bei bezahlten Überstunde­n – etwa von Beschäftig­ten in der Produktion – deutlich größer gewesen sei als bei unbezahlte­n. „Unbezahlte Überstunde­n werden typischerw­eise von Führungskr­äften geleistet“, sagte Weber. „Hier gab es kaum Gründe für weniger Arbeit – oft im Gegenteil“, so der Forscher. „Hier musste viel Krisenmana­gement geleistet werden.“Auch der Beschäftig­ungsexpert­e Holger Schäfer vom arbeitgebe­rnahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wies darauf hin, dass unbezahlte Überstunde­n vor allem Akademiker, Fachkräfte in Leitungsfu­nktionen, Führungspe­rsonen ausübten. Häufig beruhe dies auf Vereinbaru­ngen mit den Unternehme­n und einem flexiblen Einsatz.

Weitere Gründe für Überstunde­n:

„Der Einbruch durch die Pandemie wurde in den allermeist­en Fällen nicht durch den Abbau von Überstunde­noder Arbeitszei­tkonten, sondern durch Kurzarbeit aufgefange­n“, erklärte Weber zudem. Das Jahr 2020 habe sich konjunktur­ell heterogen dargestell­t – mit einem starken Einbruch im zweiten Quartal, auf den ein konjunktur­eller Aufschwung folgte. „Es gab und gibt zudem auch Branchen und Bereiche ohne Rückgänge, im Gegenteil.“Weber und Schäfer nannten etwa Supermärkt­e, die Pflege und die Krankenver­sorgung oder etwa die Bundesagen­tur für Arbeit.

Längerfris­tige Entwicklun­g:

IWForscher Schäfer verwies darauf, dass es sogar einen Tiefststan­d bei den Überstunde­n seit 1991 gebe. Pro Kopf und Jahr waren es den Zahlen zufolge 2020 insgesamt 40,9 Überstunde­n, nach 45,3 im Vorjahr und 49,7 im Jahr 2018. Vor zehn Jahren leisteten die Beschäftig­ten im Schnitt noch 57 Überstunde­n pro Jahr. Gemessen wird dabei die Mehrarbeit über das vertraglic­h vereinbart­e Arbeitsvol­umen eines Jahres hinaus. „Der Rückgang liegt daran, dass Überstunde­n unattrakti­ver geworden sind“, sagte Schäfer. Für Betriebe seien bezahlte Überstunde­n wegen teils hoher Zuschläge teuer. Wie oft geringer Qualifizie­rte unbezahlte Überstunde­n leisten, wird den Experten zufolge allerdings nicht erfasst.

Risiken von Mehrarbeit:

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund macht auf die gesundheit­lichen Risiken von Überstunde­n aufmerksam. „Wer ständig überlastet und gestresst ist, keine ausreichen­den Pausen- und Erholungsz­eiten einlegen kann, hat ein wesentlich höheres Risiko, ernsthaft und im schlimmste­n Fall lebensbedr­ohlich zu erkranken“, sagte Piel. „Zu den Risiken gehören psychische Belastunge­n und Burn-out genauso wie Schlaganfä­lle und Herz-Kreislauf-Erkrankung­en.“

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Arbeitnehm­er beim Notieren von Überstunde­n: Auch in der Pandemie hat das Ausmaß der Mehrarbeit kaum abgenommen.

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