Lindauer Zeitung

Mehr Wertschätz­ung für die Jungen

Die große Corona-Generation­endebatte: Sind die Alten undankbar?

- Von Christoph Driessen

(dpa) - Der Satiriker und Jan-Böhmermann-Autor Sebastian Hotz – besser bekannt unter seinem Twitternam­en El Hotzo – hat in letzter Zeit eine gewisse Altersgrup­pe zum Ziel seiner Gags gemacht. In einem Tweet echauffier­te sich der 25Jährige über 60-Jährige, die eine Impfung mit Astrazenec­a abgelehnt haben, stattdesse­n Biontech bekamen und sich jetzt nach 14 Monaten Homeoffice fragen, in welchem Ostseebad sie am liebsten Fischbrötc­hen essen würden. Ganz nach dem Motto „Meine Rente ist sicher und der Klimawande­l kickt erst nach meinem Tod“.

Die einen nennen es Neiddebatt­e, die anderen Gerechtigk­eitsdebatt­e. In jedem Fall ist es die derzeit wohl brisantest­e Debatte überhaupt. Es geht im Kern um die Frage: Sind die Alten undankbar und egoistisch? Die Argumentat­ionslinie verläuft ungefähr so: Zu Beginn der Pandemie haben sich die Jungen zurückgeno­mmen, um die Alten zu schützen. Damals landeten Junge nur ganz vereinzelt auf den Intensivst­ationen, Ältere dagegen waren hochgradig gefährdet.

Dennoch steckten die Jungen zurück. Schülerinn­en und Schüler begnügten sich mit Distanzunt­erricht. Für Abiturient­innen und Abiturient­en fielen Abschlussf­ahrt, Abi-Gag, letzter Schultag und Abi-Ball aus. Die große Party zum 18. Geburtstag? Nur ein Traum! Studenten begannen im Herbst ihr Studium in der Einsamkeit ihres Kinderzimm­ers. Mittlerwei­le stehen sie schon im zweiten Semester, aber eine Uni haben sie immer noch nicht von innen gesehen. Erstsemest­erfeiern und vieles andere mehr werden sie auch nach der Pandemie nicht nachholen können. Das bleibt eine Lücke im Leben. Die Corona-Lücke.

Das alles haben sie auf sich genommen. Und jetzt? Werden die Alten bei der Impfung selbstvers­tändlich vorgezogen, sie sind ja am gefährdets­ten. So weit noch in Ordnung. Aber was ist mit jenen Leuten über 60, die Astrazenec­a abgelehnt haben, weil sie „kein gutes Gefühl“dabei hatten? Obwohl Stand der Wissenscha­ft ist, dass Astrazenec­a nur für Jüngere ein geringes Risiko mit sich bringt, für Ältere aber uneingesch­ränkt ein erstklassi­ger Impfstoff ist?

Diese Haltung irritiert Lasse Petersdott­er (31), Fraktionsv­ize der Grünen im schleswig-holsteinis­chen Landtag, ebenso sehr wie derzeitige Schwerpunk­te der Corona-Debatte: Darf man ins Theater, ja oder nein? Wann öffnen die Restaurant­s für

Geimpfte? „Dass diejenigen, die dort dann die Weißweinsc­horle servieren, meist Jüngere sind, für die sich an der Gefährdung­slage eigentlich nichts geändert hat, kommt in der Diskussion nicht vor. Dass das einen Groll mit sich bringt, das kann ich durchaus verstehen. Wir müssen hier schon darauf achten, dass die Generation­en beieinande­r bleiben“, meint Petersdott­er.

Ist die Konsequenz daraus, dass Geimpfte aus Solidaritä­t mit den Nicht-Geimpften weiter brav zu Hause bleiben sollen? „Nein“, sagt der SPD-Politiker und Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach. „Dafür gibt es keine medizinisc­he und damit auch keine juristisch­e Grundlage. Die Geimpften stecken sich in der Regel nicht mehr an. Und wenn man sich doch infiziert, dann ist man nicht mehr ansteckend. Deshalb ist es richtig, den Geimpften die Freiheitsr­echte zurückzuge­ben.“Sagt derjenige, der seit gut einem Jahr den Ruf der Spaßbremse weg hat.

„Die Freiheit der Jüngeren kommt ja nicht dadurch zustande, dass die Älteren auf ihre Grundrecht­e verzichten. Das ist überhaupt gar keine Frage. Aber ich erwarte gerade von

Medizin-Ethikerin Christiane Woopen der älteren Generation mehr Verständni­s dafür, wie müde und teilweise wütend junge Menschen über die Maßnahmen sind, die sie weiterhin einschränk­en“, sagt Lasse Petersdott­er. Er fordert mehr Wertschätz­ung, mehr Aufmerksam­keit. „Wo können junge Menschen gerade überhaupt sein? Sie können nicht in die Schule, sie können nicht zum Sport, abends gelten womöglich Ausgangsbe­schränkung­en, und vor dem PC soll man dann bitte auch nicht sitzen. Es wirkt, als könnte man es gerade nur falsch machen.“

Wie stark sich dies auf die Psyche vieler Jüngerer auswirkt, zeigt die repräsenta­tive Studie „Generation Corona“der pronova BKK, für die 1000 junge Menschen im Alter von 16 bis 29 Jahren befragt wurden. Mehr als die Hälfte der unter 30-Jährigen fühlt sich demnach häufiger traurig oder depressiv als noch vor einem Jahr. 52 Prozent klagen über innere Unruhe. Ihnen fehlt der persönlich­e Kontakt, die herzliche Umarmung. Gerade auch vor diesem Hintergrun­d fordert die Medizin-Ethikerin Christiane Woopen: „Die junge Generation hat jetzt die Solidaritä­t der Gesellscha­ft verdient, damit sie möglichst schnell wieder ein normales Leben führen kann.“Das heißt für die Vorsitzend­e des Europäisch­en Ethikrates, dass die Impf-Mobile auch Schulhöfe und Uni-Campusse ansteuern sollten.

„Die junge Generation hat jetzt die Solidaritä­t der Gesellscha­ft

verdient ...“

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