Zurück in die Neunziger
John Grisham hat mit „Der Polizist“einen lesenswerten Justizthriller geschrieben
Den großen Durchbruch erzielte John Grisham hierzulande im Jahr 1992 mit „Die Firma“. Sein erstes Buch war der Geldwäsche-Thriller allerdings nicht – schon einige Jahre zuvor hatte der US-amerikanische Autor und einstige Anwalt „Die Jury“geschrieben. Dabei handelte es sich zwar ebenfalls um einen Justizroman, der allerdings noch deutlich brisantere Themen anpackte – darunter Rassismus in den amerikanischen Südstaaten, die brutale Vergewaltigung eines Kindes, Selbstjustiz und schließlich marschierte sogar der Ku-Klux-Klan in der fiktiven Mississippi-Kleinstadt Clanton auf. Allesamt Themen, die seitdem nicht an Brisanz verloren haben, und mitsamt dem kontrovers diskutierten Ende sind das Buch und seine Verfilmung auch nach 30 Jahren durchaus gut gealtert.
Seitdem hat Grisham vielfältige weitere Romane geschrieben, doch nach Clanton hat es ihn immer wieder mal zurückgezogen. Gelegentlich ließ er Nebenfiguren in anderen Büchern auftreten, bis 2014 mit „Die Erbin“eine vollwertige Fortsetzung erschien, in der wieder der idealistische Anwalt Jack Brigance die Hauptrolle spielte. Dieser zählt zu Grishams ausgereiftesten Figuren und kehrt nun in „Der Polizist“erneut zurück.
Mittlerweile schreibt man in der Handlung das Jahr 1990 und Clanton wird erneut Schauplatz eines aufsehenerregenden Mordfalls: Der Täter ist gerade mal 16 Jahre alt und das Opfer, der Titel deutet es an, ein Polizist. Statt der Hautfarbe spielt dieses Mal Klasse eine wichtige Rolle, denn die Familie des Angeklagten ist geradezu ein Paradebeispiel für den in Amerika verwendeten bösen Begriff „White Trash“:
Mutter Josie hat ihre beide Kinder bekommen, als sie selbst noch ein Teenager war. Von den Vätern ist wenig bekannt, es folgten wechselnde Partner, Gefängnisstrafen, Jugendamtseinsätze und zeitweise wohnten die drei in einem Auto. Vor diesem Hintergrund erschien der Polizist Stuart Kofer, den die junge Frau in einer Bar kennenlernte, wie eine gute Partie, doch kaum ist sie bei ihm eingezogen, wird der schwere Trinker ihr und ihren Kindern gegenüber gewalttätig. Zu Beginn des Buches eskaliert die Situation dermaßen, dass der 16-jährige Drew und seine 14-jährige Schwester Kiera denken, Kofer habe ihre Mutter bei einer Auseinandersetzung getötet. Als der Polizist betrunken einschläft, erschießt ihn Drew darauf mit seiner eigenen Waffe.
So weit die Ausgangslage und einmal mehr fällt es Jake Brigance zu, diesen äußerst undankbaren Fall zu übernehmen. Die Stadt ist in Aufruhr und die örtliche Polizei, zu der er bislang ein gutes Verhältnis hatte, schließt ebenfalls ihre Reihen. Brigance versucht das Mandat schnellstmöglich abzugeben, doch es findet sich kein anderer Anwalt und er wird zunehmend in das traurige Leben der tatsächlich am Leben gebliebenen Josie und ihrer Kinder hineingezogen. Zudem plagen ihn Geldsorgen – andere Mandanten bleiben aus und ein großer Schadensersatzfall, in den er viele Hoffnungen gesetzt hatte, läuft auch nicht wie erwartet …
Dass Drew den Polizisten getötet hat, daran besteht von Anfang an kein Zweifel. Seine Spannung bezieht das Buch nun aus der Frage, was eine moralisch angemessene Reaktion auf diese Tat sein könnte – sowie, wie meist bei Grisham, welche Strategie der Anwalt einschlägt. Trotz des tragischen Aufhängers finden sich auch gelegentlich warmherzige und humorvolle Momente, und Jake Brigance wird hier nicht nur als makelloser Kämpfer für die Gerechtigkeit gezeichnet.
Das frühe 1990er-Jahre-Setting sorgt dabei für ein entschleunigtes Tempo: Die örtliche Zeitung erscheint mit einiger Verzögerung, Shitstorms finden noch im örtlichen Café statt und Behörden kommunizieren miteinander per Post oder Fax – gut, Letzteres wirkt in Deutschland auch heute noch recht zutreffend. Für die Handlung aus amerikanischer Perspektive entscheidend ist, dass seinerzeit Minderjährigen noch in zahlreichen Bundesstaaten die Todesstrafe drohen konnte; erst vor elf Jahren wurde diese Hinrichtungspraxis vom obersten US-Gericht aufgehoben.
In der Summe macht dies den neuen Grisham zu einem lesenswerten Justizthriller und man kann noch eine weitere Umsetzung erwarten: Nachdem „Die Firma“mit Tom Cruise in der Hauptrolle ein Erfolg an den Kinokassen war, folgte eine ganze Welle weiterer sehr solider und hochkarätig besetzter GrishamVerfilmungen, die nach den 1990erJahren aber wieder abebbte. Die Kinoumsetzung von „Die Jury“brachte seinerzeit Matthew McConaughey in der Hauptrolle den großen Durchbruch. Nun soll er bald erneut Jack Brigance verkörpern, in einer Verfilmung von „Der Polizist“– dieses Mal zeitgemäß als Streaming-Miniserie.
John Grisham: Der Polizist, aus dem Amerikanischen von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya, Kristiana Dorn-Ruhl, Heyne Verlag, 672 Seiten, 24 Euro.