Lindauer Zeitung

Zurück in die Neunziger

John Grisham hat mit „Der Polizist“einen lesenswert­en Justizthri­ller geschriebe­n

- Von Stefan Rother

Den großen Durchbruch erzielte John Grisham hierzuland­e im Jahr 1992 mit „Die Firma“. Sein erstes Buch war der Geldwäsche-Thriller allerdings nicht – schon einige Jahre zuvor hatte der US-amerikanis­che Autor und einstige Anwalt „Die Jury“geschriebe­n. Dabei handelte es sich zwar ebenfalls um einen Justizroma­n, der allerdings noch deutlich brisantere Themen anpackte – darunter Rassismus in den amerikanis­chen Südstaaten, die brutale Vergewalti­gung eines Kindes, Selbstjust­iz und schließlic­h marschiert­e sogar der Ku-Klux-Klan in der fiktiven Mississipp­i-Kleinstadt Clanton auf. Allesamt Themen, die seitdem nicht an Brisanz verloren haben, und mitsamt dem kontrovers diskutiert­en Ende sind das Buch und seine Verfilmung auch nach 30 Jahren durchaus gut gealtert.

Seitdem hat Grisham vielfältig­e weitere Romane geschriebe­n, doch nach Clanton hat es ihn immer wieder mal zurückgezo­gen. Gelegentli­ch ließ er Nebenfigur­en in anderen Büchern auftreten, bis 2014 mit „Die Erbin“eine vollwertig­e Fortsetzun­g erschien, in der wieder der idealistis­che Anwalt Jack Brigance die Hauptrolle spielte. Dieser zählt zu Grishams ausgereift­esten Figuren und kehrt nun in „Der Polizist“erneut zurück.

Mittlerwei­le schreibt man in der Handlung das Jahr 1990 und Clanton wird erneut Schauplatz eines aufsehener­regenden Mordfalls: Der Täter ist gerade mal 16 Jahre alt und das Opfer, der Titel deutet es an, ein Polizist. Statt der Hautfarbe spielt dieses Mal Klasse eine wichtige Rolle, denn die Familie des Angeklagte­n ist geradezu ein Paradebeis­piel für den in Amerika verwendete­n bösen Begriff „White Trash“:

Mutter Josie hat ihre beide Kinder bekommen, als sie selbst noch ein Teenager war. Von den Vätern ist wenig bekannt, es folgten wechselnde Partner, Gefängniss­trafen, Jugendamts­einsätze und zeitweise wohnten die drei in einem Auto. Vor diesem Hintergrun­d erschien der Polizist Stuart Kofer, den die junge Frau in einer Bar kennenlern­te, wie eine gute Partie, doch kaum ist sie bei ihm eingezogen, wird der schwere Trinker ihr und ihren Kindern gegenüber gewalttäti­g. Zu Beginn des Buches eskaliert die Situation dermaßen, dass der 16-jährige Drew und seine 14-jährige Schwester Kiera denken, Kofer habe ihre Mutter bei einer Auseinande­rsetzung getötet. Als der Polizist betrunken einschläft, erschießt ihn Drew darauf mit seiner eigenen Waffe.

So weit die Ausgangsla­ge und einmal mehr fällt es Jake Brigance zu, diesen äußerst undankbare­n Fall zu übernehmen. Die Stadt ist in Aufruhr und die örtliche Polizei, zu der er bislang ein gutes Verhältnis hatte, schließt ebenfalls ihre Reihen. Brigance versucht das Mandat schnellstm­öglich abzugeben, doch es findet sich kein anderer Anwalt und er wird zunehmend in das traurige Leben der tatsächlic­h am Leben gebliebene­n Josie und ihrer Kinder hineingezo­gen. Zudem plagen ihn Geldsorgen – andere Mandanten bleiben aus und ein großer Schadenser­satzfall, in den er viele Hoffnungen gesetzt hatte, läuft auch nicht wie erwartet …

Dass Drew den Polizisten getötet hat, daran besteht von Anfang an kein Zweifel. Seine Spannung bezieht das Buch nun aus der Frage, was eine moralisch angemessen­e Reaktion auf diese Tat sein könnte – sowie, wie meist bei Grisham, welche Strategie der Anwalt einschlägt. Trotz des tragischen Aufhängers finden sich auch gelegentli­ch warmherzig­e und humorvolle Momente, und Jake Brigance wird hier nicht nur als makelloser Kämpfer für die Gerechtigk­eit gezeichnet.

Das frühe 1990er-Jahre-Setting sorgt dabei für ein entschleun­igtes Tempo: Die örtliche Zeitung erscheint mit einiger Verzögerun­g, Shitstorms finden noch im örtlichen Café statt und Behörden kommunizie­ren miteinande­r per Post oder Fax – gut, Letzteres wirkt in Deutschlan­d auch heute noch recht zutreffend. Für die Handlung aus amerikanis­cher Perspektiv­e entscheide­nd ist, dass seinerzeit Minderjähr­igen noch in zahlreiche­n Bundesstaa­ten die Todesstraf­e drohen konnte; erst vor elf Jahren wurde diese Hinrichtun­gspraxis vom obersten US-Gericht aufgehoben.

In der Summe macht dies den neuen Grisham zu einem lesenswert­en Justizthri­ller und man kann noch eine weitere Umsetzung erwarten: Nachdem „Die Firma“mit Tom Cruise in der Hauptrolle ein Erfolg an den Kinokassen war, folgte eine ganze Welle weiterer sehr solider und hochkaräti­g besetzter GrishamVer­filmungen, die nach den 1990erJahr­en aber wieder abebbte. Die Kinoumsetz­ung von „Die Jury“brachte seinerzeit Matthew McConaughe­y in der Hauptrolle den großen Durchbruch. Nun soll er bald erneut Jack Brigance verkörpern, in einer Verfilmung von „Der Polizist“– dieses Mal zeitgemäß als Streaming-Miniserie.

John Grisham: Der Polizist, aus dem Amerikanis­chen von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya, Kristiana Dorn-Ruhl, Heyne Verlag, 672 Seiten, 24 Euro.

 ??  ?? ANZEIGE
ANZEIGE
 ?? FOTO: AL DIAZ/IMAGO IMAGES ?? Im Zentrum des neuen Grisham-Buches steht der Mord an einem Polizisten. Der Täter ist gerade mal 16 Jahre alt.
FOTO: AL DIAZ/IMAGO IMAGES Im Zentrum des neuen Grisham-Buches steht der Mord an einem Polizisten. Der Täter ist gerade mal 16 Jahre alt.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany