Der Mann der Stunde null
Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Borchert – Mit „Draußen vor der Tür“wurde er bekannt
Dass er 26 Jahre, sechs Monate und nicht wenigstens noch einen Tag länger gelebt hat, ist vermutlich die tragischste Begebenheit im nicht einfachen Leben von Wolfgang Borchert. Sein viel zu früher Tod 1947 trennte ihn nur wenige Stunden von dem wichtigsten Ereignis seiner literarischen Laufbahn: der Uraufführung seines Theaterstücks „Draußen vor der Tür“am Tag darauf. Hamburgs großer Schriftsteller, der vielleicht wichtigste Augenzeuge der Stunde null, wäre an diesem Donnerstag (20. Mai) 100 Jahre alt geworden.
Es ist der beste Zeitpunkt, ein sehr abwechslungsreiches Gesamtwerk wiederzuentdecken. Hamburg feiert mit vielen Online-Veranstaltungen. „Schaut man sich die Auflagenzahlen der Werke Borcherts an und die künstlerische Verarbeitung seiner Texte in Musik, Literatur und Kunst, gibt es kaum vergleichbare Autorinnen und Autoren“, sagt der Literaturwissenschaftler und Borchert-Kenner Konstantin Ulmer über Borcherts Platz im Literaturkanon. Immer neue Schülergenerationen lesen
Wie er wohnte: Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg hütet seit 1976 die Habseligkeiten Borcherts. Zum Geburtstag zog der Nachlass, bestehend aus seinen Möbeln, seinen Büchern, Tabakspfeife, der berühmten Küchenuhr und vielen weiteren Objekten, um: Im Hauptgebäude der Bibliothek steht nun eine „Borchert-Box“, ein Glaskasten mit zwei Räumen, in denen die Ausstellung „Dissonanzen. Wolfgang Borchert (19211947)“Platz findet. Die Box ist als dauerhaftes Angebot geplant. Sie wird siebn Tage die Woche bis 24 Uhr zugänglich sein, wenn die Bibliothek wieder in Normalbetrieb geht. Bis dahin ist die Ausstellung in virtuellen Rundgängen erfahrbar.
Was er schrieb: Noch bis 12. Juni steht die Hansestadt ganz im Zeichen Wolfgang Borcherts. „Hamburg liest Borchert“feiert sein Gesamtwerk mit mehr als 30 Veranstaltungen und Aktionen – vom im Deutschunterricht das Stück vom Kriegsheimkehrer Beckmann.
Es ist eine düstere Geschichte. Der Held kehrt mit einem zerlumpten Wehrmachtsmantel und einer Gasmaskenbrille am Gummiband in das zerbombte Hamburg zurück und findet nicht mehr in das Leben zurück. Die Entfremdung gipfelt nach der Begegnung mit der Ehefrau in einem Satz, der so kalt und karg ist wie die zerstörte Stadt: „,Beckmann’, sagte sie, wie man zu einem Tisch Tisch sagt.“Sogar Gott tritt auf, kann angesichts von so viel Tod aber nur weinen. Andere wollen nichts mehr hören und einen Schlussstrich ziehen. Das Ende bleibt offen. Der Text wird zunächst als Hörspiel inszeniert und erschüttert Millionen.
„Mir fällt kein zweites Stück ein, das eine so breite Identifikation der Zeitgenossen erfahren hat“, sagt Ulmer. „Wie sehr Borchert den Nerv der Zeit getroffen hat, lässt sich übrigens auch an der vehementen Ablehnung erfahren, die seinem Werk genauso zuteil wurde.“
Warum ist der Text noch heute so erfolgreich? „Einige von Borcherts Schlüsselthemen sind von bedrückender Aktualität. 'Draußen vor der weltbekannten Drama „Draußen vor der Tür“bis zu seinen Erzählungen und Gedichten. Höhepunkt des Festivals ist die Jubiläumswoche vom 17. bis 23. Mai. Neben Lesungen und Gesprächsrunden in Buchhandlungen und im Literaturhaus sowie filmischen und grafischen Adaptionen bietet auch Stefan Gwildis sein „Best of Borchert“
Tür’ lässt sich als Stück über Posttraumatische Belastungsstörungen lesen, Krieg, Heimkehr, Heimatlosigkeit, aber auch Lebens- und Liebeshunger sind Themen von universeller Bedeutung“, sagt Ulmer. Borcherts Leben und Werk seien auch eine Mahnung, was passiere, wenn Faschisten, Rassisten und Nationalisten die Macht überlassen werde.
Der Vorsitzende der Internationalen Wolfgang Borchert Gesellschaft, Hans-Gerd Winter, brachte das große Thema vor einigen Jahren zum 60. Todestag so auf den Nenner: „Wolfgang Borchert war der erste Schriftsteller der jungen Generation, die die Nazis nicht gewählt hatte, aber in den Krieg ziehen musste; er war der Erste, der darüber geredet hat.“Die klare Sprache und die schönen Bilder im Werk des jungen Hamburgers fesselten bis heute auch Jugendliche. „Wer weiß? Wenn er heute noch lebte (…), würde er vielleicht ganz anders schreiben“, meinte Winter damals im Interview. Doch ähnlich wie zum Beispiel auch USSchauspieler James Dean sei Borchert eben als gut aussehender junger Mann gestorben und in Erinnerung geblieben.
Programm mit neu vertonten Gedichten im St. Pauli Theater dar. Einzelheiten zu Streaming-Möglichkeiten erfährt man unter www.hamburgliest.de.
Wie man mit ihm Hamburg neu entdeckt: Auch Open-Air-Veranstaltungen widmen sich den Texten und dem Leben Borcherts. Während einer abendlichen Wanderlesung im Jenischpark werden die schönsten Mondgedichte des Schriftstellers zu hören sein, eine Hafenrundfahrt, ein literarischer Spaziergang und eine Fahrradtour laden ein, die Spuren des Autors zu erkunden. In seinem Heimat-Stadtteil Eppendorf schmücken unter dem Motto „Draußen vor den Türen“Zitate aus seinem Drama Hauseingänge. Vor Orten, die zentral für Borcherts Biografie waren, werden mobile Gärten aufgestellt. Damit prägt „Hamburg liest Borchert“zurzeit das Stadtbild, wie die Organisatoren mitteilten. (dpa)
„Borcherts Texte werden bis heute viel gedruckt und viel gespielt, dabei auch aktualisiert“, so Ulmer. Zu Lebzeiten sei die Begeisterung aber noch viel größer gewesen. Literarische Zeitgenossen zollten dem jungen Kollegen Respekt: „Selbst ein Großmeister der Kurzgeschichte wie Heinrich Böll, der ja auch einige Jahre älter war als Borchert, sah in seinen Texten idealtypische Beispiele für das Genre.“
1921 in bürgerliche Verhältnisse geboren (der Vater ist Lehrer, die Mutter erfolgreiche plattdeutsche Schriftstellerin), ist Borcherts wahre Leidenschaft ursprünglich das Theater gewesen. Nach nur zwei Monaten im Ensemble der Landesbühne Osthannover in Lüneburg – für ihn die glücklichsten seines Lebens – muss er schließlich in den Krieg.
Der Verdacht, dass er sich absichtlich einen Finger abgeschossen habe, bringt Borchert ins Gefängnis und an den Rand der Todesstrafe. Wiederholt landet er wegen kritischer Äußerungen in Haft, etwa wegen einer Goebbels-Parodie. Die Monate an der Front und in Zellen werden später tödliche Folgen haben. Ulmer: „Mangelernährung, Krankheiten, Erfrierungen, Verletzungen – es war ja nicht nur das Leberleiden mit den fast ununterbrochenen Fieberanfällen. Beim ersten Fronteinsatz hatte er den Mittelfinger der linken Hand verloren, vermutlich durch Selbstverstümmelung, beim zweiten hat er schwere Erfrierungen an den Füßen erlitten.“Fieberschübe begleiten 1947 Borcherts letzten Tage.
Was sollte man – außer seinem größten Erfolg – heute von ihm lesen? „In seinem Buchdebüt 'Laterne, Nacht und Sterne’ (1946) sind 14 ausgewählte Gedichte aus fünf Jahren Produktion versammelt, die er auch selbst als vorzeigbar empfand“, sagt Ulmer. „Viel höher einzuschätzen ist meines Erachtens die Kurzprosa, Erzählungen wie ,Die Hundeblume’, ,Die Küchenuhr’, ,Die dunklen drei Könige’, ,Nachts schlafen die Ratten doch’, aber auch unbekanntere wie ,Tui Hoo’. Oder die wunderbare Erzählung ,Schischyphusch’, die eine ganz andere Seite von Borchert zeigt: den humorvollen, lebenslustigen, menschenliebenden Autor.“Einen jungen Schriftsteller, der sich gern in ältere Frauen verliebte. An Borchert ist mehr wiederzuentdecken als sein Drama über den Krieg. (dpa)