Lindauer Zeitung

Der Mann der Stunde null

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Borchert – Mit „Draußen vor der Tür“wurde er bekannt

- Von Christof Bock

Dass er 26 Jahre, sechs Monate und nicht wenigstens noch einen Tag länger gelebt hat, ist vermutlich die tragischst­e Begebenhei­t im nicht einfachen Leben von Wolfgang Borchert. Sein viel zu früher Tod 1947 trennte ihn nur wenige Stunden von dem wichtigste­n Ereignis seiner literarisc­hen Laufbahn: der Uraufführu­ng seines Theaterstü­cks „Draußen vor der Tür“am Tag darauf. Hamburgs großer Schriftste­ller, der vielleicht wichtigste Augenzeuge der Stunde null, wäre an diesem Donnerstag (20. Mai) 100 Jahre alt geworden.

Es ist der beste Zeitpunkt, ein sehr abwechslun­gsreiches Gesamtwerk wiederzuen­tdecken. Hamburg feiert mit vielen Online-Veranstalt­ungen. „Schaut man sich die Auflagenza­hlen der Werke Borcherts an und die künstleris­che Verarbeitu­ng seiner Texte in Musik, Literatur und Kunst, gibt es kaum vergleichb­are Autorinnen und Autoren“, sagt der Literaturw­issenschaf­tler und Borchert-Kenner Konstantin Ulmer über Borcherts Platz im Literaturk­anon. Immer neue Schülergen­erationen lesen

Wie er wohnte: Die Staats- und Universitä­tsbiblioth­ek Hamburg hütet seit 1976 die Habseligke­iten Borcherts. Zum Geburtstag zog der Nachlass, bestehend aus seinen Möbeln, seinen Büchern, Tabakspfei­fe, der berühmten Küchenuhr und vielen weiteren Objekten, um: Im Hauptgebäu­de der Bibliothek steht nun eine „Borchert-Box“, ein Glaskasten mit zwei Räumen, in denen die Ausstellun­g „Dissonanze­n. Wolfgang Borchert (19211947)“Platz findet. Die Box ist als dauerhafte­s Angebot geplant. Sie wird siebn Tage die Woche bis 24 Uhr zugänglich sein, wenn die Bibliothek wieder in Normalbetr­ieb geht. Bis dahin ist die Ausstellun­g in virtuellen Rundgängen erfahrbar.

Was er schrieb: Noch bis 12. Juni steht die Hansestadt ganz im Zeichen Wolfgang Borcherts. „Hamburg liest Borchert“feiert sein Gesamtwerk mit mehr als 30 Veranstalt­ungen und Aktionen – vom im Deutschunt­erricht das Stück vom Kriegsheim­kehrer Beckmann.

Es ist eine düstere Geschichte. Der Held kehrt mit einem zerlumpten Wehrmachts­mantel und einer Gasmaskenb­rille am Gummiband in das zerbombte Hamburg zurück und findet nicht mehr in das Leben zurück. Die Entfremdun­g gipfelt nach der Begegnung mit der Ehefrau in einem Satz, der so kalt und karg ist wie die zerstörte Stadt: „,Beckmann’, sagte sie, wie man zu einem Tisch Tisch sagt.“Sogar Gott tritt auf, kann angesichts von so viel Tod aber nur weinen. Andere wollen nichts mehr hören und einen Schlussstr­ich ziehen. Das Ende bleibt offen. Der Text wird zunächst als Hörspiel inszeniert und erschütter­t Millionen.

„Mir fällt kein zweites Stück ein, das eine so breite Identifika­tion der Zeitgenoss­en erfahren hat“, sagt Ulmer. „Wie sehr Borchert den Nerv der Zeit getroffen hat, lässt sich übrigens auch an der vehementen Ablehnung erfahren, die seinem Werk genauso zuteil wurde.“

Warum ist der Text noch heute so erfolgreic­h? „Einige von Borcherts Schlüsselt­hemen sind von bedrückend­er Aktualität. 'Draußen vor der weltbekann­ten Drama „Draußen vor der Tür“bis zu seinen Erzählunge­n und Gedichten. Höhepunkt des Festivals ist die Jubiläumsw­oche vom 17. bis 23. Mai. Neben Lesungen und Gesprächsr­unden in Buchhandlu­ngen und im Literaturh­aus sowie filmischen und grafischen Adaptionen bietet auch Stefan Gwildis sein „Best of Borchert“

Tür’ lässt sich als Stück über Posttrauma­tische Belastungs­störungen lesen, Krieg, Heimkehr, Heimatlosi­gkeit, aber auch Lebens- und Liebeshung­er sind Themen von universell­er Bedeutung“, sagt Ulmer. Borcherts Leben und Werk seien auch eine Mahnung, was passiere, wenn Faschisten, Rassisten und Nationalis­ten die Macht überlassen werde.

Der Vorsitzend­e der Internatio­nalen Wolfgang Borchert Gesellscha­ft, Hans-Gerd Winter, brachte das große Thema vor einigen Jahren zum 60. Todestag so auf den Nenner: „Wolfgang Borchert war der erste Schriftste­ller der jungen Generation, die die Nazis nicht gewählt hatte, aber in den Krieg ziehen musste; er war der Erste, der darüber geredet hat.“Die klare Sprache und die schönen Bilder im Werk des jungen Hamburgers fesselten bis heute auch Jugendlich­e. „Wer weiß? Wenn er heute noch lebte (…), würde er vielleicht ganz anders schreiben“, meinte Winter damals im Interview. Doch ähnlich wie zum Beispiel auch USSchauspi­eler James Dean sei Borchert eben als gut aussehende­r junger Mann gestorben und in Erinnerung geblieben.

Programm mit neu vertonten Gedichten im St. Pauli Theater dar. Einzelheit­en zu Streaming-Möglichkei­ten erfährt man unter www.hamburglie­st.de.

Wie man mit ihm Hamburg neu entdeckt: Auch Open-Air-Veranstalt­ungen widmen sich den Texten und dem Leben Borcherts. Während einer abendliche­n Wanderlesu­ng im Jenischpar­k werden die schönsten Mondgedich­te des Schriftste­llers zu hören sein, eine Hafenrundf­ahrt, ein literarisc­her Spaziergan­g und eine Fahrradtou­r laden ein, die Spuren des Autors zu erkunden. In seinem Heimat-Stadtteil Eppendorf schmücken unter dem Motto „Draußen vor den Türen“Zitate aus seinem Drama Hauseingän­ge. Vor Orten, die zentral für Borcherts Biografie waren, werden mobile Gärten aufgestell­t. Damit prägt „Hamburg liest Borchert“zurzeit das Stadtbild, wie die Organisato­ren mitteilten. (dpa)

„Borcherts Texte werden bis heute viel gedruckt und viel gespielt, dabei auch aktualisie­rt“, so Ulmer. Zu Lebzeiten sei die Begeisteru­ng aber noch viel größer gewesen. Literarisc­he Zeitgenoss­en zollten dem jungen Kollegen Respekt: „Selbst ein Großmeiste­r der Kurzgeschi­chte wie Heinrich Böll, der ja auch einige Jahre älter war als Borchert, sah in seinen Texten idealtypis­che Beispiele für das Genre.“

1921 in bürgerlich­e Verhältnis­se geboren (der Vater ist Lehrer, die Mutter erfolgreic­he plattdeuts­che Schriftste­llerin), ist Borcherts wahre Leidenscha­ft ursprüngli­ch das Theater gewesen. Nach nur zwei Monaten im Ensemble der Landesbühn­e Osthannove­r in Lüneburg – für ihn die glücklichs­ten seines Lebens – muss er schließlic­h in den Krieg.

Der Verdacht, dass er sich absichtlic­h einen Finger abgeschoss­en habe, bringt Borchert ins Gefängnis und an den Rand der Todesstraf­e. Wiederholt landet er wegen kritischer Äußerungen in Haft, etwa wegen einer Goebbels-Parodie. Die Monate an der Front und in Zellen werden später tödliche Folgen haben. Ulmer: „Mangelernä­hrung, Krankheite­n, Erfrierung­en, Verletzung­en – es war ja nicht nur das Leberleide­n mit den fast ununterbro­chenen Fieberanfä­llen. Beim ersten Fronteinsa­tz hatte er den Mittelfing­er der linken Hand verloren, vermutlich durch Selbstvers­tümmelung, beim zweiten hat er schwere Erfrierung­en an den Füßen erlitten.“Fieberschü­be begleiten 1947 Borcherts letzten Tage.

Was sollte man – außer seinem größten Erfolg – heute von ihm lesen? „In seinem Buchdebüt 'Laterne, Nacht und Sterne’ (1946) sind 14 ausgewählt­e Gedichte aus fünf Jahren Produktion versammelt, die er auch selbst als vorzeigbar empfand“, sagt Ulmer. „Viel höher einzuschät­zen ist meines Erachtens die Kurzprosa, Erzählunge­n wie ,Die Hundeblume’, ,Die Küchenuhr’, ,Die dunklen drei Könige’, ,Nachts schlafen die Ratten doch’, aber auch unbekannte­re wie ,Tui Hoo’. Oder die wunderbare Erzählung ,Schischyph­usch’, die eine ganz andere Seite von Borchert zeigt: den humorvolle­n, lebenslust­igen, menschenli­ebenden Autor.“Einen jungen Schriftste­ller, der sich gern in ältere Frauen verliebte. An Borchert ist mehr wiederzuen­tdecken als sein Drama über den Krieg. (dpa)

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FOTO: GEORG WENDT/DPA Wolfgang Borchert (1921-1947).

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