Ganztagsbetreuung auch für Grundschüler
Von 2026 an soll es einen Rechtsanspruch darauf geben – Was Länder und Kommunen davon halten
- Die Angst vor der Einschulung – in früheren Jahrzehnten, als an Schulen noch ungestraft geschlagen werden durfte, sahen manche Kinder bangen Blickes auf ihren Einschulungstermin. Heutzutage sind es eher die Eltern, die mit Sorge auf den Beginn der Grundschulzeit ihrer Kinder blicken – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Viele berufstätige Mütter und Väter wissen schlicht nicht wohin mit ihren Kindern am Mittag, wenn die Schule vorbei ist. Denn einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung, wie er für Kindertagesstätten geschaffen wurde, gibt es für Grundschulen bislang nicht. Diese Lücke will die Bundesregierung noch kurz vor dem Ende der Legislaturperiode schließen. Am Freitag beriet erstmals der Bundestag den geplanten Rechtsanspruch. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viel Betreuung ist im Ganztagsförderungsgesetz vorgesehen?
Die Große Koalition will, dass Grundschulkinder von 2026 an einen Rechtsanspruch auf acht Stunden Betreuung am Tag haben sollen, an fünf Tagen in der Woche. Die Unterrichtszeit wird angerechnet. Auch in den Ferien soll dieser Anspruch gelten – bis auf maximal vier Wochen Schließzeit im Jahr. Der Rechtsanspruch wird gestaffelt eingeführt. Das heißt, im Jahr 2026 gilt er nur für die Erstklässler, in den Folgejahren wird er jeweils um eine Klassenstufe ausgeweitet. Ob die Kinder in Horten, offenen oder gebundenen Ganztagsschulen betreut werden, ist dem Gesetzgeber gleich. Das ist Sache der Kommunen. Für die Eltern gibt es keine Pflicht, die Ganztagsbetreuung zu nutzen, das ist ein Angebot auf freiwilliger Basis.
Was will die Bundesregierung mit dem Gesetz erreichen?
Mit dem Rechtsanspruch für Grundschüler, der auch der zurückgetretenen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) ein Herzensanliegen war, will die Große Koalition eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Gleichzeitig geht es, wie die neue Familienministerin Christine Lambrecht (SPD) in der Bundestagsdebatte sagte, um mehr Chancengleichheit für Kinder.
Die Frage, ob Kinder am Nachmittag ordentlich betreut werden und somit gute Bildungschancen haben, dürfe weder von ihrem Wohnort noch von der beruflichen Situation der Eltern abhängen, betonten Politikerinnen von SPD und CDU. Auch die Wirtschaft und der Staat profitierten von diesem Gesetz, da es für Eltern einfacher werde, erwerbstätig zu sein und aus eigener Kraft für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen.
Wie hoch ist der Bedarf an Ganztagsbetreuung in Deutschland überhaupt?
Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums sind bereits etwa die Hälfte der rund 2,8 Millionen Grundschulkinder in einer Ganztagsbetreuung. Regional sind die Abweichungen aber sehr hoch. Während laut Deutschem Jugendinstitut in den ostdeutschen Ländern 78 Prozent der Grundschulkinder am Nachmittag außer Haus betreut werden, sind es im Westen nur 42 Prozent. Aber insgesamt hätten rund 75 Prozent aller Eltern Betreuungsbedarf angemeldet, sagte Lambrecht im Bundestag. Für die Länder und Kommunen vor allem im Süden und Südwesten bedeutet das: Es müssten Hunderttausende Plätze zusätzlich in Deutschland geschaffen werden. Das Deutsche Jugendinstitut geht von rund 820 000 bis 1,1 Millionen Betreuungsplätzen aus, die entstehen müssten – je nachdem, welcher Betreuungsbedarf der Eltern tatsächlich berücksichtigt wird. In Baden-Württemberg nehmen bislang am wenigsten Schulkinder eine Ganztagsbetreuung in Anspruch. Die Beteiligungsquote lag laut Bildungsbericht im Jahr 2017 bei 20,5
Prozent. In Bayern waren es 42,4 Prozent – in Thüringen und Sachsen dagegen 84,3 beziehungsweise 86,4 Prozent.
Wie viel Geld kostet der Ausbau der Ganztagsbetreuung?
Das ist der heikelste Punkt des Gesetzentwurfs. Allen Beteiligten – Bund, Länder, Kommunen – ist klar, dass es Milliarden kosten wird, den Rechtsanspruch in die Praxis umzusetzen. Klar ist aber auch, dass die Bundesregierung etwas beschließen will, was an Städten und Gemeinden hängenbleiben wird. Deshalb wird heftig um die Finanzierung des Rechtsanspruchs gerungen. Der Bund hat, um den Ländern entgegenzukommen, bereits den Startpunkt des Vorhabens um ein Jahr auf 2026 verschoben. Zudem zahlt die Bundesregierung 3,5 Milliarden Euro für
Investitionen in die Infrastruktur. Davon werden seit Ende 2020 bereits 750 Millionen Euro bereitgestellt. Auch an den Betriebskosten beteiligt sich der Bund – und zwar mit jährlich steigenden Summen. Im Jahr 2030 sollen schließlich 960 Millionen Euro pro Jahr vom Bund an die Länder fließen. Die Länder sind gleichwohl skeptisch, ob die Kostenschätzungen, die ihnen in Berlin präsentiert werden, überhaupt realistisch sind. Auch das Deutsche Jugendinstitut kalkuliert anders als die Bundesregierung. Nach Berechnungen von 2019 sind mit Investitionskosten bis zu 7,5 Milliarden Euro zu rechnen und mit dauerhaft entstehenden Betriebskosten von 4,5 Milliarden Euro jährlich.
Wie reagieren Baden-Württemberg und Bayern auf das Vorhaben?
Die Regierungen in Baden-Württemberg und Bayern unterstützen den Ausbau der Ganztagsbetreuung zwar prinzipiell, aber auch sie hadern mit der Finanzierung des Vorhabens. „Wir brauchen jetzt vom Bund ein unbürokratisches Verfahren, damit die Länder und Kommunen die Mittel für die notwendigen Investitionen effektiv einsetzen können“, sagte Bayerns Familienministerin Carolina Trautner, Vorsitzende der Jugendund Familienkonferenz, der „Schwäbischen Zeitung“. Baden-Württemberg kritisiert zudem, dass die anteilige Kostenübernahme durch den Bund sowohl im Investitionsbereich als auch bei den Betriebskosten viel zu niedrig angesetzt sei. „In der derzeitigen Ausgestaltung sprechen wir von Kosten von fast einer Milliarde pro Jahr für das Land“, teilte eine Sprecherin des Staatsministeriums Baden-Württemberg mit. Der Bund setze „auf ein Hauruckverfahren ohne vernünftige Abstimmung mit den Ländern und Kommunen, die die Lasten dann strukturell tragen“.
Gibt es überhaupt genügend Erzieherinnen und Lehrkräfte für den Ganztagsausbau?
Auch dieses Problem treibt Länder und Kommunen um. Nach Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos werden bis zum Jahr 2025 rund 191 000 Erzieher in der frühen Bildung – also bei Kita- und Grundschulkindern – fehlen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund spricht von 600 000 Erziehern und Lehrkräften, die bundesweit bis 2025 benötigt würden. Deshalb könne es nicht gelingen, bis 2030 rund 800 000 zusätzliche Ganztagsplätze zu schaffen.
Wie groß ist die Chance, dass aus dem Entwurf ein Gesetz wird?
Die Zeit drängt. Der Gesetzentwurf wurde sozusagen auf den letzten Drücker in den Bundestag eingebracht – obwohl das Vorhaben Teil des Koalitionsvertrags ist. Voraussichtlich wird er am 11. Juni im Bundestag verabschiedet, im Bundesrat könnte er, so die Länder mitziehen, am 25. Juni beschlossen werden. Der Bund habe sich auf die Länder zubewegt, sagte Bildungsministerin Anja Karliczek am Freitag im Bundestag. Jetzt gelte es, „die ausgestreckte Hand zu ergreifen“.