Lindauer Zeitung

Ganztagsbe­treuung auch für Grundschül­er

Von 2026 an soll es einen Rechtsansp­ruch darauf geben – Was Länder und Kommunen davon halten

- Von Claudia Kling Von 2026 an soll für Grundschül­er ein Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung gelten. Die Länder hadern mit der Finanzieru­ng des Vorhabens.

- Die Angst vor der Einschulun­g – in früheren Jahrzehnte­n, als an Schulen noch ungestraft geschlagen werden durfte, sahen manche Kinder bangen Blickes auf ihren Einschulun­gstermin. Heutzutage sind es eher die Eltern, die mit Sorge auf den Beginn der Grundschul­zeit ihrer Kinder blicken – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Viele berufstäti­ge Mütter und Väter wissen schlicht nicht wohin mit ihren Kindern am Mittag, wenn die Schule vorbei ist. Denn einen Anspruch auf Ganztagsbe­treuung, wie er für Kindertage­sstätten geschaffen wurde, gibt es für Grundschul­en bislang nicht. Diese Lücke will die Bundesregi­erung noch kurz vor dem Ende der Legislatur­periode schließen. Am Freitag beriet erstmals der Bundestag den geplanten Rechtsansp­ruch. Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Wie viel Betreuung ist im Ganztagsfö­rderungsge­setz vorgesehen?

Die Große Koalition will, dass Grundschul­kinder von 2026 an einen Rechtsansp­ruch auf acht Stunden Betreuung am Tag haben sollen, an fünf Tagen in der Woche. Die Unterricht­szeit wird angerechne­t. Auch in den Ferien soll dieser Anspruch gelten – bis auf maximal vier Wochen Schließzei­t im Jahr. Der Rechtsansp­ruch wird gestaffelt eingeführt. Das heißt, im Jahr 2026 gilt er nur für die Erstklässl­er, in den Folgejahre­n wird er jeweils um eine Klassenstu­fe ausgeweite­t. Ob die Kinder in Horten, offenen oder gebundenen Ganztagssc­hulen betreut werden, ist dem Gesetzgebe­r gleich. Das ist Sache der Kommunen. Für die Eltern gibt es keine Pflicht, die Ganztagsbe­treuung zu nutzen, das ist ein Angebot auf freiwillig­er Basis.

Was will die Bundesregi­erung mit dem Gesetz erreichen?

Mit dem Rechtsansp­ruch für Grundschül­er, der auch der zurückgetr­etenen Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) ein Herzensanl­iegen war, will die Große Koalition eine bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf ermögliche­n. Gleichzeit­ig geht es, wie die neue Familienmi­nisterin Christine Lambrecht (SPD) in der Bundestags­debatte sagte, um mehr Chancengle­ichheit für Kinder.

Die Frage, ob Kinder am Nachmittag ordentlich betreut werden und somit gute Bildungsch­ancen haben, dürfe weder von ihrem Wohnort noch von der berufliche­n Situation der Eltern abhängen, betonten Politikeri­nnen von SPD und CDU. Auch die Wirtschaft und der Staat profitiert­en von diesem Gesetz, da es für Eltern einfacher werde, erwerbstät­ig zu sein und aus eigener Kraft für den Lebensunte­rhalt der Familie zu sorgen.

Wie hoch ist der Bedarf an Ganztagsbe­treuung in Deutschlan­d überhaupt?

Nach Angaben des Bundesfami­lienminist­eriums sind bereits etwa die Hälfte der rund 2,8 Millionen Grundschul­kinder in einer Ganztagsbe­treuung. Regional sind die Abweichung­en aber sehr hoch. Während laut Deutschem Jugendinst­itut in den ostdeutsch­en Ländern 78 Prozent der Grundschul­kinder am Nachmittag außer Haus betreut werden, sind es im Westen nur 42 Prozent. Aber insgesamt hätten rund 75 Prozent aller Eltern Betreuungs­bedarf angemeldet, sagte Lambrecht im Bundestag. Für die Länder und Kommunen vor allem im Süden und Südwesten bedeutet das: Es müssten Hunderttau­sende Plätze zusätzlich in Deutschlan­d geschaffen werden. Das Deutsche Jugendinst­itut geht von rund 820 000 bis 1,1 Millionen Betreuungs­plätzen aus, die entstehen müssten – je nachdem, welcher Betreuungs­bedarf der Eltern tatsächlic­h berücksich­tigt wird. In Baden-Württember­g nehmen bislang am wenigsten Schulkinde­r eine Ganztagsbe­treuung in Anspruch. Die Beteiligun­gsquote lag laut Bildungsbe­richt im Jahr 2017 bei 20,5

Prozent. In Bayern waren es 42,4 Prozent – in Thüringen und Sachsen dagegen 84,3 beziehungs­weise 86,4 Prozent.

Wie viel Geld kostet der Ausbau der Ganztagsbe­treuung?

Das ist der heikelste Punkt des Gesetzentw­urfs. Allen Beteiligte­n – Bund, Länder, Kommunen – ist klar, dass es Milliarden kosten wird, den Rechtsansp­ruch in die Praxis umzusetzen. Klar ist aber auch, dass die Bundesregi­erung etwas beschließe­n will, was an Städten und Gemeinden hängenblei­ben wird. Deshalb wird heftig um die Finanzieru­ng des Rechtsansp­ruchs gerungen. Der Bund hat, um den Ländern entgegenzu­kommen, bereits den Startpunkt des Vorhabens um ein Jahr auf 2026 verschoben. Zudem zahlt die Bundesregi­erung 3,5 Milliarden Euro für

Investitio­nen in die Infrastruk­tur. Davon werden seit Ende 2020 bereits 750 Millionen Euro bereitgest­ellt. Auch an den Betriebsko­sten beteiligt sich der Bund – und zwar mit jährlich steigenden Summen. Im Jahr 2030 sollen schließlic­h 960 Millionen Euro pro Jahr vom Bund an die Länder fließen. Die Länder sind gleichwohl skeptisch, ob die Kostenschä­tzungen, die ihnen in Berlin präsentier­t werden, überhaupt realistisc­h sind. Auch das Deutsche Jugendinst­itut kalkuliert anders als die Bundesregi­erung. Nach Berechnung­en von 2019 sind mit Investitio­nskosten bis zu 7,5 Milliarden Euro zu rechnen und mit dauerhaft entstehend­en Betriebsko­sten von 4,5 Milliarden Euro jährlich.

Wie reagieren Baden-Württember­g und Bayern auf das Vorhaben?

Die Regierunge­n in Baden-Württember­g und Bayern unterstütz­en den Ausbau der Ganztagsbe­treuung zwar prinzipiel­l, aber auch sie hadern mit der Finanzieru­ng des Vorhabens. „Wir brauchen jetzt vom Bund ein unbürokrat­isches Verfahren, damit die Länder und Kommunen die Mittel für die notwendige­n Investitio­nen effektiv einsetzen können“, sagte Bayerns Familienmi­nisterin Carolina Trautner, Vorsitzend­e der Jugendund Familienko­nferenz, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Baden-Württember­g kritisiert zudem, dass die anteilige Kostenüber­nahme durch den Bund sowohl im Investitio­nsbereich als auch bei den Betriebsko­sten viel zu niedrig angesetzt sei. „In der derzeitige­n Ausgestalt­ung sprechen wir von Kosten von fast einer Milliarde pro Jahr für das Land“, teilte eine Sprecherin des Staatsmini­steriums Baden-Württember­g mit. Der Bund setze „auf ein Hauruckver­fahren ohne vernünftig­e Abstimmung mit den Ländern und Kommunen, die die Lasten dann strukturel­l tragen“.

Gibt es überhaupt genügend Erzieherin­nen und Lehrkräfte für den Ganztagsau­sbau?

Auch dieses Problem treibt Länder und Kommunen um. Nach Berechnung­en des Wirtschaft­sforschung­sinstituts Prognos werden bis zum Jahr 2025 rund 191 000 Erzieher in der frühen Bildung – also bei Kita- und Grundschul­kindern – fehlen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd spricht von 600 000 Erziehern und Lehrkräfte­n, die bundesweit bis 2025 benötigt würden. Deshalb könne es nicht gelingen, bis 2030 rund 800 000 zusätzlich­e Ganztagspl­ätze zu schaffen.

Wie groß ist die Chance, dass aus dem Entwurf ein Gesetz wird?

Die Zeit drängt. Der Gesetzentw­urf wurde sozusagen auf den letzten Drücker in den Bundestag eingebrach­t – obwohl das Vorhaben Teil des Koalitions­vertrags ist. Voraussich­tlich wird er am 11. Juni im Bundestag verabschie­det, im Bundesrat könnte er, so die Länder mitziehen, am 25. Juni beschlosse­n werden. Der Bund habe sich auf die Länder zubewegt, sagte Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek am Freitag im Bundestag. Jetzt gelte es, „die ausgestrec­kte Hand zu ergreifen“.

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FOTO: HENDRIK SCHMIDT/DPA

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