Lindauer Zeitung

Zeit zu feiern

Nach einem Jahr Pandemie-Pause meldet sich der Eurovision Song Contest zurück – Beim Finale dominieren die energetisc­hen Nummern

- Von Stefan Rother

Genug gedarbt – Zeit zu tanzen, feiern und die Haare fliegen zu lassen: Das ist der vorherrsch­ende Eindruck nach den beiden Halbfinale­ntscheidun­gen für den diesjährig­en Eurovision Song Contest (ESC) in Rotterdam. Ganz ohne schmachten­de Balladen kommt der Wettbewerb natürlich weiterhin nicht aus, dennoch stehen die energiegel­adenen Songs beim Finale heute Abend im Vordergrun­d, ein Beitrag trägt das „Adrenalin“gleich im Songtitel. Sogar eine begrenzte Zahl an Zuschauern darf das Geschehen unter strengen Testbeding­ungen in der Halle verfolgen, völlig ausblenden lässt sich die Pandemie aber nicht: Einige Beiträge nehmen darauf direkt oder indirekt Bezug, und die isländisch­en Teilnehmer mussten sich nach einem Positivtes­t schon in Quarantäne begeben.

Schon in Vor-Pandemie-Zeiten bot der schrille Sangeswett­bewerb eine willkommen­e Portion Eskapismus: Im Angesicht des harmlosen Irrsinnes auf der Bühne konnte man häppchenka­uend und proseccosc­hlürfend dem alltäglich­en Wahnsinn da draußen für einige Stunden entfliehen. In diesem Jahr bietet die Veranstalt­ung noch mehr Balsam: Endlich wieder über Trickkleid­er, Ausdruckst­anz und Windmaschi­nen räsonieren, Strichlist­en führen, wer alles von Shakira geklaut hat, und Glitzerkle­ider miteinande­r vergleiche­n. Da dürfte es noch egaler sein, dass die Prognosen für Deutschlan­d mal wieder äußerst mau sind: Zwar mangelt es Jendrik, der die Startnumme­r 15 hat, nicht an

ANZEIGE quirliger Energie, und die Botschaft seiner Ukulele-Nummer „I Don’t Feel Hate“sollte auch auf Wohlgefall­en stoßen; dennoch sehen ihn die Buchmacher nur auf Platz 23 von 26.

Die Konkurrenz ist dieses Jahr allerdings auch stark: Schon beim letztjähri­gen, abgesagten Wettbewerb punkteten Litauen (The Roop) und Island (Daði og Gagnamagni­ð) mit bizarr-genialen Nummern und führen diese Linie gekonnt fort. Die Lieder sind sehr eindrückli­ch in Szene gesetzt, auch wenn der isländisch­e Song „10 Years“nun heute Abend als Video abgespielt wird – sicherheit­shalber hatten alle Teilnehmer vorab ihre Auftritte aufzeichne­n lassen.

Auch andere Länder wollen es nach der unfreiwill­igen Pause wieder wissen: Aserbaidsc­han, das beim Europarat wie beim Eurovion Contest bekannterm­aßen reichlich Geld in die Imagepfleg­e investiert, verpasst dem bombastisc­hen Song des Vorjahrs einfach ein Update – auf „Cleopatra“folgt „Mata Hari“. „Mehr ist mehr“scheint auch die Devise von San Marino zu sein; der Zwergstaat, der lange Jahre als Resterampe für Ralph-Siegel-Kompositio­nen fungierte, paart die stimmgewal­tige Sängerin Senhit mit dem bekannten USRapper Flo Rida und hat gleich ein ganzes Rudel etablierte­r Hitkomponi­sten engagiert. Wie das Land, das derzeit Impftouris­mus als Einnahmequ­elle entdeckt hat (drei Tage, Sputnik-Impfung inklusive) den Wettbewerb als Sieger ausrichten würde, wäre sicherlich interessan­t.

Traditione­ll Ehrgeiz beim Wettstreit entfaltet Russland, gutes Abschneide­n ist fast schon Staatsräso­n. In diesem Jahr wird mit der Kandidatin allerdings gehadert: Manizha ist als Kind mit ihrer Familie vom Bürgerkrie­g in Tadschikis­tan geflohen, und dass sich ihr Lied „Russian Woman“für Emanzipati­on einsetzt, wurde von den Nationalis­ten daheim als russlandfe­indlich ausgelegt. Zudem steht die Sängerin für ein positives Körpergefü­hl und die Rechte von

Schwulen und Lesben. In der bunten ESC-Welt kann man mit solchen Selbstbest­immungshym­nen umso mehr punkten. Ärger mit dem Land, das sie vertritt, bekam auch Elena Tsagrinou: Nicht etwa, weil ihr „El Diablo“schamlos bei Lady Gaga abgekupfer­t hat – in Zypern regte sich vielmehr Protest, weil der Song doch offenkundi­g satanisch beeinfluss­t sei. Letztlich legte sich auch diese Aufregung.

Weißrussla­nds Beitrag sorgte dagegen außerhalb des Landes für Empörung; die Band Galasy ZMesta hatte sich über die Proteste im Land lustig gemacht, die vom Regime blutig bekämpft werden. Die ESC-Veranstalt­er schlossen Weißrussla­nd schließlic­h vom Wettbewerb aus.

Neben all den Tanznummer­n mit reichlich Wumms und mehr als nur ein bisschen Glitzer-Glitzer gibt es in Rotterdam dieses Jahr aber auch genügend Abwechslun­g zu hören: Hooverphon­ic aus Belgien bieten mit „The Wrong Place“atmosphäri­schen Pop, ebenso die stilvollen The Black Mamba aus Portugal („Love Is on My Side“). Blind Channel aus Finnland setzen für „Dark Side“gar auf ESCuntypis­chen Hardcore und lassen ihre Mähnen kreisen. Rock spielt auch die italienisc­he Band Måneskin, die mit ihrem Song „Zitti e buoni“von den Buchmacher­n auf Platz eins geführt wird, gefolgt vom selbstbewu­ssten Power-Song aus Malta (Destiny mit „Je me casse“). Auf den Plätzen drei und vier landen mit Frankreich (Edith-Piaf-Bewunderin Barbara Pravi, „Voilà“) und der Schweiz (Gjon’s Tears „Tout l’univers“) aber doch wieder recht klassische Balladen.

Ein paar Dinge ändern sich beim ESC eben doch nicht. Dazu gehört auch ein vielverspr­echendes Rahmenprog­ramm, das bei den Halbfinals bereits beeindruck­ende Tanzdarbie­tungen und Auftritte früherer ESC-Gewinner aufbot. Für heute Abend war auch Duncan Laurence gesetzt, der mit seinem Sieg vor zwei Jahren in Tel Aviv den Wettbewerb in die Niederland­e holte. Allerdings hat auch er sich in den vergangene­n Tagen infiziert – und wird nun ebenfalls wohl nur via Video vertreten sein.

ESC: Finale heute (ARD), 21 Uhr; um 20.15 Uhr: Countdown für Rotterdam.

 ?? FOTO: VYACHESLAV PROKOFYEV/IMAGO IMAGES ?? Viel Kleid, viel Ehr? Manizha, als Kind mit ihrer Familie aus Tadschikis­tan geflohen, singt „Russian Woman“, einen Beitrag, der – da emanzipato­risch – daheim in Russland nicht von allen goutiert wird.
FOTO: VYACHESLAV PROKOFYEV/IMAGO IMAGES Viel Kleid, viel Ehr? Manizha, als Kind mit ihrer Familie aus Tadschikis­tan geflohen, singt „Russian Woman“, einen Beitrag, der – da emanzipato­risch – daheim in Russland nicht von allen goutiert wird.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Mit „I Don’t Feel Hate“vertritt Jendrik Deutschlan­d.
FOTO: IMAGO IMAGES Mit „I Don’t Feel Hate“vertritt Jendrik Deutschlan­d.

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