Zeit zu feiern
Nach einem Jahr Pandemie-Pause meldet sich der Eurovision Song Contest zurück – Beim Finale dominieren die energetischen Nummern
Genug gedarbt – Zeit zu tanzen, feiern und die Haare fliegen zu lassen: Das ist der vorherrschende Eindruck nach den beiden Halbfinalentscheidungen für den diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) in Rotterdam. Ganz ohne schmachtende Balladen kommt der Wettbewerb natürlich weiterhin nicht aus, dennoch stehen die energiegeladenen Songs beim Finale heute Abend im Vordergrund, ein Beitrag trägt das „Adrenalin“gleich im Songtitel. Sogar eine begrenzte Zahl an Zuschauern darf das Geschehen unter strengen Testbedingungen in der Halle verfolgen, völlig ausblenden lässt sich die Pandemie aber nicht: Einige Beiträge nehmen darauf direkt oder indirekt Bezug, und die isländischen Teilnehmer mussten sich nach einem Positivtest schon in Quarantäne begeben.
Schon in Vor-Pandemie-Zeiten bot der schrille Sangeswettbewerb eine willkommene Portion Eskapismus: Im Angesicht des harmlosen Irrsinnes auf der Bühne konnte man häppchenkauend und proseccoschlürfend dem alltäglichen Wahnsinn da draußen für einige Stunden entfliehen. In diesem Jahr bietet die Veranstaltung noch mehr Balsam: Endlich wieder über Trickkleider, Ausdruckstanz und Windmaschinen räsonieren, Strichlisten führen, wer alles von Shakira geklaut hat, und Glitzerkleider miteinander vergleichen. Da dürfte es noch egaler sein, dass die Prognosen für Deutschland mal wieder äußerst mau sind: Zwar mangelt es Jendrik, der die Startnummer 15 hat, nicht an
ANZEIGE quirliger Energie, und die Botschaft seiner Ukulele-Nummer „I Don’t Feel Hate“sollte auch auf Wohlgefallen stoßen; dennoch sehen ihn die Buchmacher nur auf Platz 23 von 26.
Die Konkurrenz ist dieses Jahr allerdings auch stark: Schon beim letztjährigen, abgesagten Wettbewerb punkteten Litauen (The Roop) und Island (Daði og Gagnamagnið) mit bizarr-genialen Nummern und führen diese Linie gekonnt fort. Die Lieder sind sehr eindrücklich in Szene gesetzt, auch wenn der isländische Song „10 Years“nun heute Abend als Video abgespielt wird – sicherheitshalber hatten alle Teilnehmer vorab ihre Auftritte aufzeichnen lassen.
Auch andere Länder wollen es nach der unfreiwilligen Pause wieder wissen: Aserbaidschan, das beim Europarat wie beim Eurovion Contest bekanntermaßen reichlich Geld in die Imagepflege investiert, verpasst dem bombastischen Song des Vorjahrs einfach ein Update – auf „Cleopatra“folgt „Mata Hari“. „Mehr ist mehr“scheint auch die Devise von San Marino zu sein; der Zwergstaat, der lange Jahre als Resterampe für Ralph-Siegel-Kompositionen fungierte, paart die stimmgewaltige Sängerin Senhit mit dem bekannten USRapper Flo Rida und hat gleich ein ganzes Rudel etablierter Hitkomponisten engagiert. Wie das Land, das derzeit Impftourismus als Einnahmequelle entdeckt hat (drei Tage, Sputnik-Impfung inklusive) den Wettbewerb als Sieger ausrichten würde, wäre sicherlich interessant.
Traditionell Ehrgeiz beim Wettstreit entfaltet Russland, gutes Abschneiden ist fast schon Staatsräson. In diesem Jahr wird mit der Kandidatin allerdings gehadert: Manizha ist als Kind mit ihrer Familie vom Bürgerkrieg in Tadschikistan geflohen, und dass sich ihr Lied „Russian Woman“für Emanzipation einsetzt, wurde von den Nationalisten daheim als russlandfeindlich ausgelegt. Zudem steht die Sängerin für ein positives Körpergefühl und die Rechte von
Schwulen und Lesben. In der bunten ESC-Welt kann man mit solchen Selbstbestimmungshymnen umso mehr punkten. Ärger mit dem Land, das sie vertritt, bekam auch Elena Tsagrinou: Nicht etwa, weil ihr „El Diablo“schamlos bei Lady Gaga abgekupfert hat – in Zypern regte sich vielmehr Protest, weil der Song doch offenkundig satanisch beeinflusst sei. Letztlich legte sich auch diese Aufregung.
Weißrusslands Beitrag sorgte dagegen außerhalb des Landes für Empörung; die Band Galasy ZMesta hatte sich über die Proteste im Land lustig gemacht, die vom Regime blutig bekämpft werden. Die ESC-Veranstalter schlossen Weißrussland schließlich vom Wettbewerb aus.
Neben all den Tanznummern mit reichlich Wumms und mehr als nur ein bisschen Glitzer-Glitzer gibt es in Rotterdam dieses Jahr aber auch genügend Abwechslung zu hören: Hooverphonic aus Belgien bieten mit „The Wrong Place“atmosphärischen Pop, ebenso die stilvollen The Black Mamba aus Portugal („Love Is on My Side“). Blind Channel aus Finnland setzen für „Dark Side“gar auf ESCuntypischen Hardcore und lassen ihre Mähnen kreisen. Rock spielt auch die italienische Band Måneskin, die mit ihrem Song „Zitti e buoni“von den Buchmachern auf Platz eins geführt wird, gefolgt vom selbstbewussten Power-Song aus Malta (Destiny mit „Je me casse“). Auf den Plätzen drei und vier landen mit Frankreich (Edith-Piaf-Bewunderin Barbara Pravi, „Voilà“) und der Schweiz (Gjon’s Tears „Tout l’univers“) aber doch wieder recht klassische Balladen.
Ein paar Dinge ändern sich beim ESC eben doch nicht. Dazu gehört auch ein vielversprechendes Rahmenprogramm, das bei den Halbfinals bereits beeindruckende Tanzdarbietungen und Auftritte früherer ESC-Gewinner aufbot. Für heute Abend war auch Duncan Laurence gesetzt, der mit seinem Sieg vor zwei Jahren in Tel Aviv den Wettbewerb in die Niederlande holte. Allerdings hat auch er sich in den vergangenen Tagen infiziert – und wird nun ebenfalls wohl nur via Video vertreten sein.
ESC: Finale heute (ARD), 21 Uhr; um 20.15 Uhr: Countdown für Rotterdam.