Kein Fehler der Natur
Die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind fließend
Darf eine Sportlerin mit hohen Testosteronwerten in der Frauenmannschaft antreten? Und warum trägt Conchita Wurst Kleider? In immer mehr Lebensbereichen scheint die starre Trennung zwischen Mann und Frau aufzuweichen. Höchste Zeit, sich von den starren Vorgaben der Konsumindustrie zu befreien. Denn warum soll Frauentee nicht auch Männern schmecken?
Kluge Möbelhersteller sollten sich schon mal wappnen. Es könnte gut sein, dass Männer schon bald wählerisch werden in Sachen Stühle. Wer in einer Welt aufwächst, in der Jungen in Piratenbetten und Mädchen in Einhornbettwäsche schlafen, es „Bad boy“-Schnuller und „TopModel“-Filzstifte gibt, der wird vielleicht nicht mehr auf dem Tulip Chair sitzen wollen. Denn der schlanke weiße Designklassiker ist weiblich. Das ergab zumindest eine Abstimmung in der HfG Ulm. In der Ausstellung „Gender im Design“war sich das Publikum einig: Der Tulip Chair ist weiblich, der breite, untersetzte LCM Sessel von Charles &
Ray Eames dagegen männlich.
Stühle nur für Männer? Es würde einen kaum wundern, denn die Konsumindustrie hat längst erkannt, dass die starre Binarität ein höchst lukratives Geschäftsmodell ist. Die südkoreanische Fotografin Jeongmee Yoon hat in einer Fotoserie dokumentiert, wie die Geschlechterbilder in den Alltag wirken und dazu Kinder aus aller Welt mit ihren Habseligkeiten fotografiert. Sorgfältig wurden Spiel- und Schulsachen, Kleider, Kuscheltiere und Kosmetikartikel ausgebreitet – und das Ergebnis war erschlagend deutlich: Die Jungen versinken in einem Meer von Blau, bei den Mädchen ist alles rosa – von der Socke bis zur Haarbürste. Sogar die Zahnpasta ist nach Geschlechtern getrennt. Deshalb spricht man heute von „Pinkifizierung“oder auch von „Pink Tax“, wenn Produkte für Frauen teurer verkauft werden, weil Hersteller wissen, dass Frauen mehr in Körperpflege investieren.
Man muss keine Genderforschung betreiben, um festzustellen, dass sich die Geschlechtsstereotype in den vergangenen Jahren verfestigt haben. Ob es um Kosmetik, Medizin oder Sport geht – auf immer mehr Feldern wird klar zwischen Mann und Frau getrennt. Es gab natürlich immer Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, aber in früheren Generationen trugen Kinder die Kleider der Älteren auf und übernahmen Roller und Rad von den Großen. Inzwischen wird von Geburt an unterschieden bei Farben, Lego-Steinen, Bällen, Rädern, Schultüten oder Ranzen. Womit Kinder auch in Berührung kommen, stets wird markiert: Ich bin ein Junge oder eben ein Mädchen.
Sogar Überraschungseier und Pritt-Stift sind inzwischen „nur für
Mädchen“.
Bloß, was ist mit jenen, die ihre geschlechtliche Identität nicht so eindeutig erleben oder sich nicht vorschreiben lassen wollen, was ihnen zu gefallen und zu schmecken hat? Warum dieser unnötige Zwang? Als Lann Hornscheidt vor ein paar Jahren forderte, weder als Professor noch als Professorin bezeichnet zu werden, sondern als „Profx“, brach eine
Welle der Empörung los. Die Tatsache, dass sich jemand weder als Mann noch als Frau fühlte, löste
Hass aus. Hornscheidt sei „abartig“und „geisteskrank“, war sich die Internetgemeinde einig, und müsse „eingeschläfert“werden.
Inzwischen kommt man auch in öffentlichen Debatten kaum mehr an den Themen Inter- und Transsexualität vorbei. Auch wenn es nicht jeder nachvollziehen kann, melden sich immer mehr Menschen zu
Wort, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. In der Mode gibt es längst Transmodels, Conchita Wurst machte als Diva mit Bart in der Musikwelt Furore. Mit der Läuferin Caster Semenya kam plötzlich die Frage auf, wie hoch der Testosteronwert bei Sportlerinnen sein darf. Zuletzt diskutierte die Filmbranche, ob Transpersonen auch von Transsexuellen gespielt werden sollten.
Wo man auch hinschaut: Begriffe wie „Gender Fluid“, „Non-binary“, „Transgender Female“oder „TwoSpirit“werfen die fundamentale Frage auf, ob es womöglich nicht nur zwei klar definierte Geschlechter gibt, sondern der Übergang fließend ist? Der Gesetzgeber hat sich bereits verabschiedet von einer starren Kategorisierung und den „divers“Eintrag im Personenstandsregister eingeführt. Auch die Wissenschaft hat zunehmend Zweifel, ob das, wovon nicht nur der Vatikan felsenfest überzeugt ist, tatsächlich so stimmt. Wenn es nach dem Genetiker Olaf Hiort geht, ist das Dazwischen kein Fehler der Natur. Da bei der Entwicklung des Menschen lebenslang immer aufs Neue zwischen männlich und weiblich entschieden werde, ergebe sich ein weit verzweigter Baum mit zahllosen Varianten zwischen Mann und Frau.
Es gibt einige Kulturen, in denen ein drittes Geschlecht immer selbstverständlich war, etwa in Indien oder Thailand. Die Bewohner von Amarete in Bolivien kennen sogar zehn Gender, wobei nicht allein nach biologischem Geschlecht unterschieden wird, sondern auch soziale Aspekte eine Rolle spielen. Auch in der Antike ging man von einem dritten Geschlecht aus – und im „Symposium“berichtet Platon von den Kugelmenschen, die männlich oder weiblich waren, während die andrógynoi beide Anteile besaßen.
Warum ist die Angst offenbar groß, dass auch hierzulande die Kategorien aufweichen könnten, dass Menschen, die man vielleicht nicht mal kennt, ihre Identität anders erleben als man selbst? Warum gerät in unserer Gesellschaft, die doch eigentlich auf individuelle Freiheit setzt, ein Mann in Verteidigungshaltung, nur weil ihm Frauentee schmeckt oder er nicht immer braune oder graue Handtücher benutzen möchte?
Wer an den Geschlechtsvorstellungen rüttelt, der bringt die Gesellschaft durcheinander, meint der französische Philosoph Thierry Hoquet. Denn Geschlecht werde mit spezifischen Verhaltensweisen und vor allem Machtkonstellationen verbunden. Dass Männer scharfe BBQ-Soßen mögen hat eben auch sehr viel mit Erziehung und Konventionen zu tun. Die Freiburger Neurobiologin Anelis Kaiser hat sogar Hinweise gefunden, dass gesellschaftliche Stereotype erst ins Gehirn eingeschrieben würden. Sie behauptet, dass es kein männliches oder weibliches Gehirn an sich gebe.
Jedem Einzelnen ist es unbenommen, sich in eine Schublade zu setzen, sich als besonders männlich oder weiblich – und damit sicher zu fühlen. Wer sich aber als lebendiges Wesen begreift, könnte es als Bereicherung und Freiheit erleben, den Vielklang eigener Emotionen zu hören, einerlei, in welche Kategorie sie fallen. Mal robust, mal empfindsam, manchmal ganz Körper, dann wieder zart sinnlich – es gibt so vieles, was man in sich spüren und entdecken kann, wenn man es denn zulässt. Je stärker man sich dagegen den – letztlich von der Konsumindustrie vorgegebenen – Stereotypen verschreibt, desto beschränkter das eigene Erleben.
Gesamtgesellschaftlich wird sich weisen, ob sich letztlich Toleranz und Freigeistigkeit durchsetzen oder jene, die im Internet polemisieren oder auch auf der Straße gegen Transidentität oder Intersexualität demonstrieren – und damit doch nichts an der Tatsache ändern, dass sich immer mehr Menschen keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen können oder wollen. Psychologen stellen fest, dass gerade junge Leute zunehmend mit ihrem Geschlecht hadern. Auch die Zahl derer, die es operativ ändern wollen, steigt, wie auch die Zahl jener, die wie Lann Hornscheid bewusst dazwischen leben und sich nicht zwingen lassen wollen, sich für die Kategorie Mann oder Frau zu entscheiden. Das mag befremdlich wirken. Aber vielleicht ist es auch eine Chance, eines Tages in einer Welt leben zu können, in der nicht ständig auf Unterschiede gepocht wird, sondern man sich auf das Gemeinsame besinnt und jeden als das nimmt, was er zu allererst ist: Mensch.