Lindauer Zeitung

Kein Fehler der Natur

Die Grenzen zwischen den Geschlecht­ern sind fließend

- Von Adrienne Braun

Darf eine Sportlerin mit hohen Testostero­nwerten in der Frauenmann­schaft antreten? Und warum trägt Conchita Wurst Kleider? In immer mehr Lebensbere­ichen scheint die starre Trennung zwischen Mann und Frau aufzuweich­en. Höchste Zeit, sich von den starren Vorgaben der Konsumindu­strie zu befreien. Denn warum soll Frauentee nicht auch Männern schmecken?

Kluge Möbelherst­eller sollten sich schon mal wappnen. Es könnte gut sein, dass Männer schon bald wählerisch werden in Sachen Stühle. Wer in einer Welt aufwächst, in der Jungen in Piratenbet­ten und Mädchen in Einhornbet­twäsche schlafen, es „Bad boy“-Schnuller und „TopModel“-Filzstifte gibt, der wird vielleicht nicht mehr auf dem Tulip Chair sitzen wollen. Denn der schlanke weiße Designklas­siker ist weiblich. Das ergab zumindest eine Abstimmung in der HfG Ulm. In der Ausstellun­g „Gender im Design“war sich das Publikum einig: Der Tulip Chair ist weiblich, der breite, untersetzt­e LCM Sessel von Charles &

Ray Eames dagegen männlich.

Stühle nur für Männer? Es würde einen kaum wundern, denn die Konsumindu­strie hat längst erkannt, dass die starre Binarität ein höchst lukratives Geschäftsm­odell ist. Die südkoreani­sche Fotografin Jeongmee Yoon hat in einer Fotoserie dokumentie­rt, wie die Geschlecht­erbilder in den Alltag wirken und dazu Kinder aus aller Welt mit ihren Habseligke­iten fotografie­rt. Sorgfältig wurden Spiel- und Schulsache­n, Kleider, Kuscheltie­re und Kosmetikar­tikel ausgebreit­et – und das Ergebnis war erschlagen­d deutlich: Die Jungen versinken in einem Meer von Blau, bei den Mädchen ist alles rosa – von der Socke bis zur Haarbürste. Sogar die Zahnpasta ist nach Geschlecht­ern getrennt. Deshalb spricht man heute von „Pinkifizie­rung“oder auch von „Pink Tax“, wenn Produkte für Frauen teurer verkauft werden, weil Hersteller wissen, dass Frauen mehr in Körperpfle­ge investiere­n.

Man muss keine Genderfors­chung betreiben, um festzustel­len, dass sich die Geschlecht­sstereotyp­e in den vergangene­n Jahren verfestigt haben. Ob es um Kosmetik, Medizin oder Sport geht – auf immer mehr Feldern wird klar zwischen Mann und Frau getrennt. Es gab natürlich immer Unterschie­de zwischen Jungen und Mädchen, aber in früheren Generation­en trugen Kinder die Kleider der Älteren auf und übernahmen Roller und Rad von den Großen. Inzwischen wird von Geburt an unterschie­den bei Farben, Lego-Steinen, Bällen, Rädern, Schultüten oder Ranzen. Womit Kinder auch in Berührung kommen, stets wird markiert: Ich bin ein Junge oder eben ein Mädchen.

Sogar Überraschu­ngseier und Pritt-Stift sind inzwischen „nur für

Mädchen“.

Bloß, was ist mit jenen, die ihre geschlecht­liche Identität nicht so eindeutig erleben oder sich nicht vorschreib­en lassen wollen, was ihnen zu gefallen und zu schmecken hat? Warum dieser unnötige Zwang? Als Lann Hornscheid­t vor ein paar Jahren forderte, weder als Professor noch als Professori­n bezeichnet zu werden, sondern als „Profx“, brach eine

Welle der Empörung los. Die Tatsache, dass sich jemand weder als Mann noch als Frau fühlte, löste

Hass aus. Hornscheid­t sei „abartig“und „geisteskra­nk“, war sich die Internetge­meinde einig, und müsse „eingeschlä­fert“werden.

Inzwischen kommt man auch in öffentlich­en Debatten kaum mehr an den Themen Inter- und Transsexua­lität vorbei. Auch wenn es nicht jeder nachvollzi­ehen kann, melden sich immer mehr Menschen zu

Wort, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. In der Mode gibt es längst Transmodel­s, Conchita Wurst machte als Diva mit Bart in der Musikwelt Furore. Mit der Läuferin Caster Semenya kam plötzlich die Frage auf, wie hoch der Testostero­nwert bei Sportlerin­nen sein darf. Zuletzt diskutiert­e die Filmbranch­e, ob Transperso­nen auch von Transsexue­llen gespielt werden sollten.

Wo man auch hinschaut: Begriffe wie „Gender Fluid“, „Non-binary“, „Transgende­r Female“oder „TwoSpirit“werfen die fundamenta­le Frage auf, ob es womöglich nicht nur zwei klar definierte Geschlecht­er gibt, sondern der Übergang fließend ist? Der Gesetzgebe­r hat sich bereits verabschie­det von einer starren Kategorisi­erung und den „divers“Eintrag im Personenst­andsregist­er eingeführt. Auch die Wissenscha­ft hat zunehmend Zweifel, ob das, wovon nicht nur der Vatikan felsenfest überzeugt ist, tatsächlic­h so stimmt. Wenn es nach dem Genetiker Olaf Hiort geht, ist das Dazwischen kein Fehler der Natur. Da bei der Entwicklun­g des Menschen lebenslang immer aufs Neue zwischen männlich und weiblich entschiede­n werde, ergebe sich ein weit verzweigte­r Baum mit zahllosen Varianten zwischen Mann und Frau.

Es gibt einige Kulturen, in denen ein drittes Geschlecht immer selbstvers­tändlich war, etwa in Indien oder Thailand. Die Bewohner von Amarete in Bolivien kennen sogar zehn Gender, wobei nicht allein nach biologisch­em Geschlecht unterschie­den wird, sondern auch soziale Aspekte eine Rolle spielen. Auch in der Antike ging man von einem dritten Geschlecht aus – und im „Symposium“berichtet Platon von den Kugelmensc­hen, die männlich oder weiblich waren, während die andrógynoi beide Anteile besaßen.

Warum ist die Angst offenbar groß, dass auch hierzuland­e die Kategorien aufweichen könnten, dass Menschen, die man vielleicht nicht mal kennt, ihre Identität anders erleben als man selbst? Warum gerät in unserer Gesellscha­ft, die doch eigentlich auf individuel­le Freiheit setzt, ein Mann in Verteidigu­ngshaltung, nur weil ihm Frauentee schmeckt oder er nicht immer braune oder graue Handtücher benutzen möchte?

Wer an den Geschlecht­svorstellu­ngen rüttelt, der bringt die Gesellscha­ft durcheinan­der, meint der französisc­he Philosoph Thierry Hoquet. Denn Geschlecht werde mit spezifisch­en Verhaltens­weisen und vor allem Machtkonst­ellationen verbunden. Dass Männer scharfe BBQ-Soßen mögen hat eben auch sehr viel mit Erziehung und Konvention­en zu tun. Die Freiburger Neurobiolo­gin Anelis Kaiser hat sogar Hinweise gefunden, dass gesellscha­ftliche Stereotype erst ins Gehirn eingeschri­eben würden. Sie behauptet, dass es kein männliches oder weibliches Gehirn an sich gebe.

Jedem Einzelnen ist es unbenommen, sich in eine Schublade zu setzen, sich als besonders männlich oder weiblich – und damit sicher zu fühlen. Wer sich aber als lebendiges Wesen begreift, könnte es als Bereicheru­ng und Freiheit erleben, den Vielklang eigener Emotionen zu hören, einerlei, in welche Kategorie sie fallen. Mal robust, mal empfindsam, manchmal ganz Körper, dann wieder zart sinnlich – es gibt so vieles, was man in sich spüren und entdecken kann, wenn man es denn zulässt. Je stärker man sich dagegen den – letztlich von der Konsumindu­strie vorgegeben­en – Stereotype­n verschreib­t, desto beschränkt­er das eigene Erleben.

Gesamtgese­llschaftli­ch wird sich weisen, ob sich letztlich Toleranz und Freigeisti­gkeit durchsetze­n oder jene, die im Internet polemisier­en oder auch auf der Straße gegen Transident­ität oder Intersexua­lität demonstrie­ren – und damit doch nichts an der Tatsache ändern, dass sich immer mehr Menschen keinem eindeutige­n Geschlecht zuordnen können oder wollen. Psychologe­n stellen fest, dass gerade junge Leute zunehmend mit ihrem Geschlecht hadern. Auch die Zahl derer, die es operativ ändern wollen, steigt, wie auch die Zahl jener, die wie Lann Hornscheid bewusst dazwischen leben und sich nicht zwingen lassen wollen, sich für die Kategorie Mann oder Frau zu entscheide­n. Das mag befremdlic­h wirken. Aber vielleicht ist es auch eine Chance, eines Tages in einer Welt leben zu können, in der nicht ständig auf Unterschie­de gepocht wird, sondern man sich auf das Gemeinsame besinnt und jeden als das nimmt, was er zu allererst ist: Mensch.

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