Bloß nicht anstecken
Auch Tiere kennen das Konzept des „Social Distancing“– Vor allem solche, die in Gesellschaften leben, wenden es sehr erfolgreich an, um sich zu schützen und Pandemien zu verhindern
Das Volk ist im Alarmzustand. Aber keineswegs in Panik. Schließlich gilt es, möglichst effektiv eine Epidemie abzuwehren. Da müssen alle ihren Beitrag leisten. Also bleibt jeder in seiner eigenen Clique und reduziert die Kontakte zu anderen Gruppen. Die Gesellschaft insgesamt rückt weiter auseinander. Und wer für die Gemeinschaft besonders wertvolle Dienste leistet, wird auch besonders gut geschützt. Sogar eine Art Impfprogramm kommt in Gang – und zwar lange, bevor die Seuche überhaupt ausbricht. Dieses ausgetüftelte Konzept zur Krankheitsbekämpfung ist keineswegs eine menschliche Erfindung. Es funktioniert vermutlich seit Urzeiten in den Kolonien von Mitteleuropas häufigster Ameise: der Schwarzen Wegameise.
„Das ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Tiere zum Schutz vor Infektionen ihr Sozialverhalten ändern“, sagt Sebastian Stockmaier von der University of Texas in Austin. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA und Großbritannien hat der Biologe kürzlich eine ganze Reihe von solchen Fällen zusammengetragen. Die Idee des Social Distancing ist demnach keineswegs neu. In vielen Tiergesellschaften von Insekten über Fische und Vögel bis hin zu Säugetieren hat es sich im Laufe der Evolution offenbar gut bewährt.
Gerade sozial lebende Insekten fallen in dieser Hinsicht durch besonders ausgefeilte und effektive Konzepte auf. So haben die Schwarzen Wegameisen ihre Kolonien schon prophylaktisch so organisiert, dass Krankheitserregern die Verbreitung möglichst schwerfällt. Da hilft es schon, dass die Ameisengesellschaft in verschiedene „Berufsgruppen“unterteilt ist. Während sich junge Arbeiterinnen vor allem der Brutpflege im Nest widmen, sind ältere für die Nahrungsbeschaffung zuständig. Dazu aber müssen diese Sammlerinnen die Kolonie häufiger verlassen – und haben damit ein größeres Risiko, sich mit Erregern zu infizieren.
Durch akribische Beobachtung Tausender Tiere hat ein Team um Nathalie Stroeymeyt von der University of Bristol festgestellt, dass Ameisen mit solchen riskanten Jobs deutlich weniger Kontakte haben als ihre Kolleginnen im Innendienst. Vor allem von der Königin, die allein für das Eierlegen zuständig ist, und von den für die Kolonie so wichtigen Brutpflegerinnen halten sie sich fern. Computersimulationen zeigen, dass diese soziale Organisation tatsächlich hilft, die Zahl der übertragenen Erreger zu reduzieren und das Ausbreitungstempo von Krankheiten zu bremsen.
Doch auf Prophylaxe allein verlassen sich die Tiere nicht. Das zeigt ein Experiment, in dem zehn Prozent der Sammlerinnen den Sporen eines für Insekten gefährlichen Pilzes namens ausgesetzt waren. Schon bevor die Infizierten überhaupt Symptome hatten, ergriff der Ameisenstaat Gegenmaßnahmen. Wie die Insekten die Gefahr so früh bemerken, weiß bisher niemand. Möglicherweise können sie die Sporen chemisch oder mechanisch erkennen. Jedenfalls fuhren sie den Kontakt zwischen Sammlerinnen und Brutpflegerinnen sehr schnell noch weiter zurück. Der Erfolg konnte sich sehen lassen. So bekamen nur wenige Tiere genügend Sporen ab, um krank zu werden. Viele aber wurden mit geringeren Dosen des Erregers infiziert. Diese Mengen führen nicht zu Gesundheitsproblemen, kurbeln aber ähnlich wie bei einer Impfung das Immunsystem an und schützen so vor künftigen Infektionen. Am Ende des Experiments war die Sterblichkeit bei den für die Kolonie besonders wichtigen Brutpflegerinnen geringer als bei den Sammlerinnen. Und sämtliche Königinnen waren am Leben geblieben.
„Besonders beeindruckend an diesem Beispiel finde ich, dass die ganze Kolonie darauf hinarbeitet, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern“, sagt Sebastian Stockmaier. „Auch Ameisen, die gar nicht infiziert sind, reduzieren ihre Kontakte – ganz ähnlich, wie wir es gerade wegen Covid-19 machen.“
Nicht ganz so viel Organisation erfordert eine andere Form von Social Distancing, bei der die Gesunden den Kranken möglichst aus dem Weg gehen. Vögel, wie der in Nordamerika lebende Hausgimpel, nutzen diese Strategie ebenso wie Karibik-Langusten oder die als Zierfische bekannten Guppys. Damit das klappt, müssen die Tiere allerdings erkennen können, ob Artgenossen sich einen Erreger eingefangen haben oder nicht. Doch in dieser Hinsicht scheinen viele Arten ein feines Gespür zu haben. Mandrille zum Beispiel erkennen am Geruch des Kots, ob darin bestimmte Parasiten lauern. Die Affen mit den farbenfrohen Gesichtern vermeiden dann nicht nur den Kontakt zu den infektiösen Exkrementen. Auch deren Ausscheider kommen längst nicht mehr so häufig in den Genuss von Fellpflege wie normalerweise.
Umgekehrt kann Social Distancing aber auch von den Kranken selbst ausgehen. Entweder, weil sie sich aktiv absondern, wie man es bei Ameisen beobachtet hat. Oder, weil sie einfach zu schlapp sind, um in der Kolonie unterwegs zu sein und Artgenossen zu treffen. Einem solchen Fall von passiver Kontaktbeschränkung ist Simon Ripperger vom Museum für Naturkunde in Berlin zusammen mit Sebastian Stockmaier und Gerald Carter von der Ohio State University bei Vampirfledermäusen auf die Spur gekommen.
In einem hohlen Baum im mittelamerikanischen Belize haben die Forscher mehr als 30 Weibchen der flatternden Blutsauger gefangen und ihnen einen Mini-Computer zwischen die Schulterblätter geklebt. Diese Geräte erfassen automatisch, wer mit wem Kontakt hat. „So können wir die sozialen Netzwerke der Fledermäuse rekonstruieren“, sagt Simon Ripperger. Der Hälfte der geflügelten Kandidatinnen haben er und seine Kollegen dann eine Substanz verabreicht, die für ein paar Stunden ähnliche Immunreaktionen auslöst wie eine Bakterieninfektion. „Die Tiere waren nicht wirklich krank, fühlten sich aber so“, erklärt der Forscher. Und das veränderte das gesamte Fledermaus-Netzwerk. Die angeschlagenen Tiere hatten insbesondere während der Hochphase
der Krankheitssymptome weniger Kontakt zu Artgenossinnen und verbrachten auch weniger Zeit mit ihnen. Woran aber liegt das? „Wir wissen, dass sich kranke Vampirfledermäuse weniger bewegen und mehr schlafen“, sagt Simon Ripperger. Zudem stoßen sie seltener jene speziellen Rufe aus, mit denen sie Kontakt zu Artgenossen suchen. Das alles könnte dazu beitragen, dass Kranke auch in Vampirkreisen weniger Kontakte haben als Gesunde.
Von solchen Studien erhoffen sich Wissenschaftler auch Erkenntnisse darüber, wie sich Krankheitserreger generell in Gruppen verbreiten und welche Strategien dagegen helfen. Denn das kann auch für menschliche Gesellschaften interessant sein. „Insektenstaaten haben ja ein paar soziale Strukturen, die unseren ähnlich sind“, argumentiert Sebastian Stockmaier.
Allerdings seien solche Vergleiche zwischen Mensch und Tier auch mit Vorsicht zu genießen. So bestehen viele Insektenstaaten aus eng verwandten Tieren. Diese profitieren davon, ihrer Königin bei der Vermehrung zu helfen. Denn dadurch wird immer auch ein Teil der eigenen Gene weitergegeben. „Also ziehen alle an einem Strang“, sagt Sebastian Stockmaier. „Menschen handeln da oft deutlich egoistischer.“
Kontakte zu vermeiden, ist nicht die einzige Strategie, die Tiere zur Bekämpfung von Krankheiten entwickelt haben. Bei einigen Arten ist auch das Konzept der Krankenpflege bekannt. Gesunde unterstützen infizierte Artgenossen – auch auf die Gefahr hin, sich dabei selbst anzustecken. Bekannt sind solche Verhaltensweisen vor allem von sozialen Insekten. Da in einem Bienenvolk oder Ameisenstaat alle Individuen eng miteinander verwandt sind, lässt sich die Evolution dieses selbstlosen Verhaltens relativ leicht erklären. Denn jede Ameise, die einer anderen hilft, trägt dadurch zur Gesundheit der Königin und der ganzen Kolonie bei – und dadurch auch zum Überleben ihrer eigenen Gene. Deshalb unterstützen Ameisen und Termiten ihre Mitbewohnerinnen im Nest regelmäßig bei der Körperpflege. Sie entfernen Pilzsporen direkt von deren Körper oder machen sie durch chemische Desinfektion unschädlich. (vie)