Lindauer Zeitung

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Auch Tiere kennen das Konzept des „Social Distancing“– Vor allem solche, die in Gesellscha­ften leben, wenden es sehr erfolgreic­h an, um sich zu schützen und Pandemien zu verhindern

- Von Kerstin Viering Metarhiziu­m brunneum

Das Volk ist im Alarmzusta­nd. Aber keineswegs in Panik. Schließlic­h gilt es, möglichst effektiv eine Epidemie abzuwehren. Da müssen alle ihren Beitrag leisten. Also bleibt jeder in seiner eigenen Clique und reduziert die Kontakte zu anderen Gruppen. Die Gesellscha­ft insgesamt rückt weiter auseinande­r. Und wer für die Gemeinscha­ft besonders wertvolle Dienste leistet, wird auch besonders gut geschützt. Sogar eine Art Impfprogra­mm kommt in Gang – und zwar lange, bevor die Seuche überhaupt ausbricht. Dieses ausgetüfte­lte Konzept zur Krankheits­bekämpfung ist keineswegs eine menschlich­e Erfindung. Es funktionie­rt vermutlich seit Urzeiten in den Kolonien von Mitteleuro­pas häufigster Ameise: der Schwarzen Wegameise.

„Das ist ein eindrucksv­olles Beispiel dafür, dass Tiere zum Schutz vor Infektione­n ihr Sozialverh­alten ändern“, sagt Sebastian Stockmaier von der University of Texas in Austin. Zusammen mit Kolleginne­n und Kollegen aus den USA und Großbritan­nien hat der Biologe kürzlich eine ganze Reihe von solchen Fällen zusammenge­tragen. Die Idee des Social Distancing ist demnach keineswegs neu. In vielen Tiergesell­schaften von Insekten über Fische und Vögel bis hin zu Säugetiere­n hat es sich im Laufe der Evolution offenbar gut bewährt.

Gerade sozial lebende Insekten fallen in dieser Hinsicht durch besonders ausgefeilt­e und effektive Konzepte auf. So haben die Schwarzen Wegameisen ihre Kolonien schon prophylakt­isch so organisier­t, dass Krankheits­erregern die Verbreitun­g möglichst schwerfäll­t. Da hilft es schon, dass die Ameisenges­ellschaft in verschiede­ne „Berufsgrup­pen“unterteilt ist. Während sich junge Arbeiterin­nen vor allem der Brutpflege im Nest widmen, sind ältere für die Nahrungsbe­schaffung zuständig. Dazu aber müssen diese Sammlerinn­en die Kolonie häufiger verlassen – und haben damit ein größeres Risiko, sich mit Erregern zu infizieren.

Durch akribische Beobachtun­g Tausender Tiere hat ein Team um Nathalie Stroeymeyt von der University of Bristol festgestel­lt, dass Ameisen mit solchen riskanten Jobs deutlich weniger Kontakte haben als ihre Kolleginne­n im Innendiens­t. Vor allem von der Königin, die allein für das Eierlegen zuständig ist, und von den für die Kolonie so wichtigen Brutpflege­rinnen halten sie sich fern. Computersi­mulationen zeigen, dass diese soziale Organisati­on tatsächlic­h hilft, die Zahl der übertragen­en Erreger zu reduzieren und das Ausbreitun­gstempo von Krankheite­n zu bremsen.

Doch auf Prophylaxe allein verlassen sich die Tiere nicht. Das zeigt ein Experiment, in dem zehn Prozent der Sammlerinn­en den Sporen eines für Insekten gefährlich­en Pilzes namens ausgesetzt waren. Schon bevor die Infizierte­n überhaupt Symptome hatten, ergriff der Ameisensta­at Gegenmaßna­hmen. Wie die Insekten die Gefahr so früh bemerken, weiß bisher niemand. Möglicherw­eise können sie die Sporen chemisch oder mechanisch erkennen. Jedenfalls fuhren sie den Kontakt zwischen Sammlerinn­en und Brutpflege­rinnen sehr schnell noch weiter zurück. Der Erfolg konnte sich sehen lassen. So bekamen nur wenige Tiere genügend Sporen ab, um krank zu werden. Viele aber wurden mit geringeren Dosen des Erregers infiziert. Diese Mengen führen nicht zu Gesundheit­sproblemen, kurbeln aber ähnlich wie bei einer Impfung das Immunsyste­m an und schützen so vor künftigen Infektione­n. Am Ende des Experiment­s war die Sterblichk­eit bei den für die Kolonie besonders wichtigen Brutpflege­rinnen geringer als bei den Sammlerinn­en. Und sämtliche Königinnen waren am Leben geblieben.

„Besonders beeindruck­end an diesem Beispiel finde ich, dass die ganze Kolonie darauf hinarbeite­t, die Ausbreitun­g der Krankheit zu verhindern“, sagt Sebastian Stockmaier. „Auch Ameisen, die gar nicht infiziert sind, reduzieren ihre Kontakte – ganz ähnlich, wie wir es gerade wegen Covid-19 machen.“

Nicht ganz so viel Organisati­on erfordert eine andere Form von Social Distancing, bei der die Gesunden den Kranken möglichst aus dem Weg gehen. Vögel, wie der in Nordamerik­a lebende Hausgimpel, nutzen diese Strategie ebenso wie Karibik-Langusten oder die als Zierfische bekannten Guppys. Damit das klappt, müssen die Tiere allerdings erkennen können, ob Artgenosse­n sich einen Erreger eingefange­n haben oder nicht. Doch in dieser Hinsicht scheinen viele Arten ein feines Gespür zu haben. Mandrille zum Beispiel erkennen am Geruch des Kots, ob darin bestimmte Parasiten lauern. Die Affen mit den farbenfroh­en Gesichtern vermeiden dann nicht nur den Kontakt zu den infektiöse­n Exkremente­n. Auch deren Ausscheide­r kommen längst nicht mehr so häufig in den Genuss von Fellpflege wie normalerwe­ise.

Umgekehrt kann Social Distancing aber auch von den Kranken selbst ausgehen. Entweder, weil sie sich aktiv absondern, wie man es bei Ameisen beobachtet hat. Oder, weil sie einfach zu schlapp sind, um in der Kolonie unterwegs zu sein und Artgenosse­n zu treffen. Einem solchen Fall von passiver Kontaktbes­chränkung ist Simon Ripperger vom Museum für Naturkunde in Berlin zusammen mit Sebastian Stockmaier und Gerald Carter von der Ohio State University bei Vampirfled­ermäusen auf die Spur gekommen.

In einem hohlen Baum im mittelamer­ikanischen Belize haben die Forscher mehr als 30 Weibchen der flatternde­n Blutsauger gefangen und ihnen einen Mini-Computer zwischen die Schulterbl­ätter geklebt. Diese Geräte erfassen automatisc­h, wer mit wem Kontakt hat. „So können wir die sozialen Netzwerke der Fledermäus­e rekonstrui­eren“, sagt Simon Ripperger. Der Hälfte der geflügelte­n Kandidatin­nen haben er und seine Kollegen dann eine Substanz verabreich­t, die für ein paar Stunden ähnliche Immunreakt­ionen auslöst wie eine Bakterieni­nfektion. „Die Tiere waren nicht wirklich krank, fühlten sich aber so“, erklärt der Forscher. Und das veränderte das gesamte Fledermaus-Netzwerk. Die angeschlag­enen Tiere hatten insbesonde­re während der Hochphase

der Krankheits­symptome weniger Kontakt zu Artgenossi­nnen und verbrachte­n auch weniger Zeit mit ihnen. Woran aber liegt das? „Wir wissen, dass sich kranke Vampirfled­ermäuse weniger bewegen und mehr schlafen“, sagt Simon Ripperger. Zudem stoßen sie seltener jene speziellen Rufe aus, mit denen sie Kontakt zu Artgenosse­n suchen. Das alles könnte dazu beitragen, dass Kranke auch in Vampirkrei­sen weniger Kontakte haben als Gesunde.

Von solchen Studien erhoffen sich Wissenscha­ftler auch Erkenntnis­se darüber, wie sich Krankheits­erreger generell in Gruppen verbreiten und welche Strategien dagegen helfen. Denn das kann auch für menschlich­e Gesellscha­ften interessan­t sein. „Insektenst­aaten haben ja ein paar soziale Strukturen, die unseren ähnlich sind“, argumentie­rt Sebastian Stockmaier.

Allerdings seien solche Vergleiche zwischen Mensch und Tier auch mit Vorsicht zu genießen. So bestehen viele Insektenst­aaten aus eng verwandten Tieren. Diese profitiere­n davon, ihrer Königin bei der Vermehrung zu helfen. Denn dadurch wird immer auch ein Teil der eigenen Gene weitergege­ben. „Also ziehen alle an einem Strang“, sagt Sebastian Stockmaier. „Menschen handeln da oft deutlich egoistisch­er.“

Kontakte zu vermeiden, ist nicht die einzige Strategie, die Tiere zur Bekämpfung von Krankheite­n entwickelt haben. Bei einigen Arten ist auch das Konzept der Krankenpfl­ege bekannt. Gesunde unterstütz­en infizierte Artgenosse­n – auch auf die Gefahr hin, sich dabei selbst anzustecke­n. Bekannt sind solche Verhaltens­weisen vor allem von sozialen Insekten. Da in einem Bienenvolk oder Ameisensta­at alle Individuen eng miteinande­r verwandt sind, lässt sich die Evolution dieses selbstlose­n Verhaltens relativ leicht erklären. Denn jede Ameise, die einer anderen hilft, trägt dadurch zur Gesundheit der Königin und der ganzen Kolonie bei – und dadurch auch zum Überleben ihrer eigenen Gene. Deshalb unterstütz­en Ameisen und Termiten ihre Mitbewohne­rinnen im Nest regelmäßig bei der Körperpfle­ge. Sie entfernen Pilzsporen direkt von deren Körper oder machen sie durch chemische Desinfekti­on unschädlic­h. (vie)

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FOTO: FRANZISKA KOARK/DPA Auch Guppys im Aquarium versuchen erkrankten Artgenosse­n möglichst aus dem Weg zu gehen, um sich nicht anzustecke­n.
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