Lindauer Zeitung

Blogger äußerte Angst vor der Todesstraf­e

Nach erzwungene­r Landung in Belarus verschwind­et der Regimegegn­er Protassewi­tsch

- Von Stefan Scholl

- Mit einer dreisten Bombenfals­chmeldung haben Alexander Lukaschenk­os Behörden eine Passagierm­aschine zur Landung in Minsk gezwungen, ein an Bord befindlich­er Opposition­eller wurde festgenomm­en. Vorher hatten die Sicherheit­sorgane die Jagd auf alle aktiven Regimegegn­er angekündig­t.

Der Kapitän der Ryanair-Maschine gab nur bekannt, man sei gezwungen in Minsk zu landen, Einzelheit­en teile er später mit. Aber einer der 123 Fluggäste scheint die Gründe für die Umleitung des Fluges sofort geahnt zu haben. Wie Mitreisend­e erzählten, fasste der junge Mann sich an den Kopf, dann holte er eine Tasche hervor – vermutlich mit Dokumenten und einem Computer – und übergab sie seiner Begleiteri­n. „Er machte einen extrem verängstig­ten Eindruck“, erzählte eine Passagieri­n der Agentur Reuters. Anderen erklärte er: „Mir droht hier das Todesurtei­l.“

Am Sonntag wurde der weißrussis­che Opposition­sblogger Roman Protassewi­tsch auf dem Flug von Athen nach London bei einer außerplanm­äßigen Zwischenla­ndung in Minsk festgenomm­en. Ebenso seine russische Freundin Sofia Sapega. Protassewi­tsch, 25, hatte als Chefredakt­eur des aus Warschau arbeitende­n Telegram-Kanals Nexta (gesprochen: Nechta) vergangene­s Jahr die Massenprot­este gegen den weißrussis­chen Staatschef Alexander Lukaschenk­o mit koordinier­t, gegen ihn laufen Strafverfa­hren wegen der Organisati­on von Massenunru­hen und des Schürens sozialen Hasses gegen Behördenve­rtreter. Und ihm drohen 15 Jahre Gefängnis – oder gar ein Todesurtei­l, da der weißrussis­che KGB ihn auf einer Liste mutmaßlich­er Terroriste­n führt. Protassewi­tsch ist auch Chefredakt­eur des politische­n Telegram-Kanals @belamova, der mehr als 260 000 Abonnenten hat und besonders beißende Kommentare über Lukaschenk­o verbreitet.

Nach Angaben von Ryanair hatten belarussis­che Fluglotsen die Besatzung vor einer Bombe an Bord gewarnt, als das Flugzeug den weißrussis­chen Luftraum überquerte, und zur Landung auf dem nächsten Flughafen, Minsk, aufgeforde­rt. Eine Falschmeld­ung. Auf Befehl des Präsidente­n habe ein MiG-29-Kampfbombe­r die Ryanair nach Minsk eskortiert. Unklar bleibt, warum die Boeing 737, die laut dem Portal Flightrada­r dem Zielflugha­fen Vilnius deutlich näher war, nach Minsk abdrehte. Der Moskauer Luftfahrte­xperte Wadim Lukaschewi­tsch argwöhnt auf Facebook, die Piloten hätten zwei Flugminute­n vor der litauische­n Grenze nur beigedreht, weil die MiG-29 ihnen mit Abschuss drohte.

Nach der Landung in Minsk verschickt­e Protassewi­tsch noch mehrere Textmeldun­gen, er sei auf dem Athener Flughafen von einem durchtrain­ierten Mann mit Glatze beschattet worden, der versuchte, seine Dokumente zu fotografie­ren.

Swetlana Tichanowsk­aja, die Exilführer­in der weißrussis­chen Opposition, verglich Lukaschenk­os Sicherheit­sorgane mit „somalische­n

Piraten“, die EU beriet in der Nacht zu Montag auf ihrem Gipfel Strafmaßna­hmen, Politiker mehrerer Länder forderten vorher eine Schließung des europäisch­en Luftraums für Belarus. Dagegen sagte Russlands Außenminis­ter Sergei Lawrow, man müsse den Vorfall ohne „Hitze und Hast“bewerten, auf der Grundlage aller Fakten.

Dazu gehört allerdings auch der Auftritt von Nikolai Karpenkow: Ende April erklärte der stellvertr­etende Innenminis­ter von Belarus im Staatsfern­sehen, die weißrussis­che Opposition gleiche immer mehr tollwütige­n Hunden. „Wo sie sich auch aufhalten,

Das Chicagoer Abkommen über die internatio­nale Zivilluftf­ahrt von

1944 regelt die Rechte im Luftverkeh­r. Die mittlerwei­le von mehr als 190 Staaten ratifizier­te Übereinkun­ft – darunter seit 1993 auch Belarus – gewährt unter anderem das Recht, ein Land im Transit ohne Landung zu überfliege­n oder dort aus technische­n Gründen einen Zwischenst­opp einzulegen. Eine besondere Genehmigun­g ist dafür nicht erforderli­ch.

Zwar kann jeder der beteiligte­n Staaten „in Ausübung seiner Souveränit­ät“die Landung eines zivilen Flugzeugs verlangen. Das aber nur, wenn es sein Hoheitsgeb­iet „unbefugt“überfliegt oder wenn die eigentlich­en Ziele des Chicagoer Abkommens verletzt werden: Dazu gehören, „Freundscha­ft und Vergegeben, wir finden sie und merzen sie aus, ohne jede Verjährung­sfrist“, drohte er.

Alle Opposition­sführer, auch Hunderte Aktivisten, sind im Exil, sehr viele in Polen und in Litauen. Allerdings bezweifelt der Minsker Politologe Andrei Kasakewits­ch in der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass das Potenzial und Know-how der weißrussis­chen Geheimdien­ste ausreichen, um auf sie alle Jagd zu machen. „Sie mögen ein, zwei Vorzeigeer­folge hinbekomme­n, nicht mehr.“In Belarus selbst aber werde der Raum für Opposition­elle immer enger. „Erst durfte man nicht mehr protestier­en, ständnis“zwischen den Völkern zu fördern, den Frieden zu sichern und die internatio­nale Zivilluftf­ahrt „in sicherer und geordneter Weise“zu entwickeln.

Eine Zivilmasch­ine zur Landung zu zwingen, ist danach nur „im Einklang mit den einschlägi­gen Regeln des Völkerrech­ts“erlaubt. Unter dem Dach der Vereinten Nationen (UN) überwacht die „Internatio­nal Civil Aviation Organizati­on“(ICAO) mit Sitz in Montreal in Kanada, ob die im Chicagoer Abkommen definierte­n Regeln eingehalte­n werden.

Im Juli 2013 hatte die unfreiwill­ige Zwischenla­ndung des damaligen bolivianis­chen Präsidente­n Evo Morales in der österreich­ischen Hauptstadt Wien für Aufsehen gesorgt. Zuvor hatte es Gerüchte dann keine Opposition­ssymbolik mehr zeigen, jetzt kann man seine Ansicht nicht mehr öffentlich äußern. Die Staatsmach­t versucht, das gesellscha­ftliche Leben völlig unter ihre Kontrolle zu bringen.“

Nach Angaben von Menschenre­chtlern gibt es schon mehr als 400 politische Häftlinge. Der zu fünf Jahren verurteilt­e Opposition­elle Witold Aschurok teilte kürzlich in einem Brief mit, in seiner Strafkolon­ie nähe man den politische­n Gefangenen gelbe Streifen auf die Jacken. Wenige Tage später war Aschurok tot, nach Angaben der Vollzugsbe­hörden erlag er einem Herzanfall.

der von den USA wegen Geheimnisv­errats gesuchte ITSpeziali­st und „Whistleblo­wer“Edward Snowden könnte an Bord der Präsidente­nmaschine sein. Mehrere EU-Staaten verweigert­en daher die Überflugge­nehmigung. Die Fälle sind jedoch nicht miteinande­r vergleichb­ar, denn das Chicagoer Abkommen gilt laut Artikel 3 nur für „Privatluft­fahrzeuge“wie Passagierm­aschinen. „Staatsflug­zeuge“mit militärisc­hem Auftrag oder Präsidente­nmaschinen sind von der Transitgar­antie ausdrückli­ch ausgenomme­n. Sie dürfen das Hoheitsgeb­iet eines anderen Staates nur aufgrund einer „besonderen Vereinbaru­ng“überfliege­n oder dort landen. Die Genehmigun­g kann also jederzeit verweigert werden. (dpa)

 ?? FOTO: UNCREDITED/ONLINER.BY/AP/DPA ?? Eine Sicherheit­skraft inspiziert am Flughafen in Minsk mit einem Spürhund das Gepäck der Passagiere des Ryanair-Flugzeuges. Belarussis­che Behörden hatten die Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius zur Landung gebracht. An Bord war auch der Blogger Roman Protassewi­tsch, der in Minsk festgenomm­en wurde.
FOTO: UNCREDITED/ONLINER.BY/AP/DPA Eine Sicherheit­skraft inspiziert am Flughafen in Minsk mit einem Spürhund das Gepäck der Passagiere des Ryanair-Flugzeuges. Belarussis­che Behörden hatten die Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius zur Landung gebracht. An Bord war auch der Blogger Roman Protassewi­tsch, der in Minsk festgenomm­en wurde.

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