Lindauer Zeitung

Zeichnen bis ins hohe Alter

Eric Carle, der Schöpfer der Raupe Nimmersatt, ist tot – Seine Jugend verbrachte er in Stuttgart

- Von Nina Schmedding

Erst frisst sich das Tierchen durch das Obst, dann nagt es an Wurst, Käse, Lolli und Kuchen. Rund, satt und mit leicht drückendem Bauch verpuppt es sich und wird ein schöner Schmetterl­ing. Seit Jahrzehnte­n erfreut das Lochbilder­buch „Die kleine Raupe Nimmersatt“Kinder. Erfunden hat sie der deutsch-amerikanis­che Zeichner Eric Carle. Nun ist der Schöpfer der Raupe Medienberi­chten zufolge im Alter von 91 Jahren gestorben. Er erlag demnach bereits am Sonntag in seinem Studio im US-Bundesstaa­t Massachuse­tts einem Nierenvers­agen.

„Ein Buch zum Anfassen und Fühlen, ein Spielzeug, das man lesen kann“, so beschrieb es Carle selbst in seiner Autobiogra­fie „Mein Weg zum Kinderbuch“. Die Löcher, die die fressgieri­ge Raupe hinterläss­t, baute er als haptische Erfahrung in seine Bildergesc­hichte ein. Das Kind sieht nicht nur die Raupe – es „wird vielmehr zur Raupe selbst, indem es seine Finger in die Löcher steckt und den abenteuerl­ichen Vorgang der Geschichte, die mit der Raupe passiert, erlebt und erleidet“, beschrieb es einmal treffend Viktor Christen, ehemaliger Leiter des Gerstenber­gVerlags,

der Carles Bücher entdeckt und erstmals in deutscher Sprache veröffentl­icht hat.

Raupen, Ameisen, Käfer, Spinnen, Würmer – bereits als kleiner Junge war Carle von Insekten fasziniert: „Ich erinnere mich noch genau an die Begeisteru­ng, mit der ich Steine hochgehobe­n oder Rinde von toten Bäumen abgekratzt habe, um die winzigen Lebewesen zu beobachten, die dort aufgeregt hin und her krabbelten.“Neben der kleinen Raupe erweckte er als Erwachsene­r zahlreiche Kleintiere per Bild zum Leben, darunter „Der kleine Käfer Immerfrech“. Seine Motivation: Durch das in seinen Büchern spielerisc­h vermittelt­e Wissen wollte er, der selbst ungern zur Schule ging, Kindern den Übergang vom Elternhaus zum Schulallta­g erleichter­n.

Am 25. Juni 1929 wurde Eric Carle im amerikanis­chen Syracuse als Kind von deutschen Einwandere­rn geboren. In Erinnerung blieb ihm von seiner Kindheit dort besonders der Besuch des Kindergart­ens: „Es war ein großer, sonniger Raum mit großen Bogen Papier, bunten Farben und dicken Pinseln.“Die Kinder „füllten weiße Blätter mit bunten Farben. Ich kann noch nach so vielen Jahren die Freude spüren, die mir diese Beschäftig­ung machte.“

1935 zog Carle als Junge von sechs Jahren wieder zurück nach Deutschlan­d, nach Stuttgart: Seine dort lebende Großmutter hatte ihren Sohn und seine Frau um Rückkehr gebeten – eine ungewöhnli­che Entscheidu­ng in einer Zeit, in der zahlreiche Menschen versuchten, aus NaziDeutsc­hland zu emigrieren. Bereits als Schüler entwickelt­e Carle künstleris­ches Talent. Seine Begabung fiel auch seinem Zeichenleh­rer Herrn Krauss auf, und er lud Eric ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Dort zeigte er ihm heimlich Reprodukti­onen von Werken von Picasso, Matisse und Klee, die damals als entartete Kunst galten. Carle war beeindruck­t von ihrer „fremdartig­en Schönheit“, wie er in seinen Erinnerung­en schrieb. Nach dem Abschluss der Kunsthochs­chule Stuttgart kehrte Carle mit 22 Jahren in die USA zurück und arbeitete als Werbedesig­ner. Er fing an, mit Seidenpapi­er zu experiment­ieren – eine Technik, die später zu seinem Markenzeic­hen werden sollte. Farbenfroh­e Collagen entstanden. 1967 illustrier­te er sein erstes Kinderbuch, zahlreiche weitere folgten. 2002 eröffnete er in Massachuse­tts, „The Eric Carle Museum of Picture Book Art“, ein Museum für internatio­nale Bilderbuch­kunst.

Die Malerei hat Carle nie aufgegeben – auch im hohen Alter nicht. „Zurzeit interessie­re ich mich sehr für Paul Klees Tagebuch und seine vielen Darstellun­gen von Engeln“, erzählte er vor ein paar Jahren. 2019 widmete sich eine Ausstellun­g in Hannover Carle – 50 Jahre nach Erscheinen der kleinen Raupe Nimmersatt.

Warum die Raupe Kinder seit Jahrzehnte­n so fasziniert? „Ich nehme an, die meisten Kinder können sich mit der hilflosen, kleinen, unbedeuten­den Raupe identifizi­eren, und sie freuen sich darüber, wenn sich die Raupe in einen wunderschö­nen Schmetterl­ing verwandelt“, vermutete einst der Zeichner. Darin stecke „eine Hoffnungsb­otschaft: Ich kann auch groß werden“. (KNA)

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FOTO: RICHARD DREW/DPA Der Autor Eric Carle im Jahr 2009.

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