Lindauer Zeitung

„Ein weites Feld, das 100 Fuder Wein ermöglicht“

So ist die Geschichte von Lindaus Hinterer Insel bis zur Gartenscha­u verlaufen

- Von Karl Schweizer

- Die Westliche oder Hintere Insel ist derzeit das Zentrum der Lindauer Gartenscha­u 2021. Ein Blick in die Geschichte dieses Stadtteils zeigt seine teils erstaunlic­he städtebaul­iche Entwicklun­g.

Die Grenze zwischen der Hauptinsel sowie der Hinteren Insel war der seit dem 12. Jahrhunder­t zur Verteidigu­ng ausgehoben­e tiefe Graben entlang der westlichen Stadtmauer, heute die Zeppelinst­raße sowie der Inselgrabe­n. Die damals rund 2000 Einwohneri­nnen und Einwohner der rund um Lindaus Kloster (das Stift) entstanden­en Stadt Lindau hatten ihre Siedlung mit einer ersten Stadtmauer umgeben, dabei aber die westliche „Nieder Ynsel“zunächst nicht ebenso befestigt. Vermutlich infolge der „Schweizerk­riege“ab 1489 erweiterte­n sie die Stadtbefes­tigung auch rund um diesen zur Nahversorg­ung wichtigen landwirtsc­haftlichen Stadtteil. Als westlichst­er Punkt der Mauer entstand 1508 der „Grüne Turm“, heute der „Pulverturm“. Im Süden gehörte ab 1564 auch das „Fuchsloch“mit der befestigte­n „Feuchtbast­ion“sowie dem „Fischertor“hinzu, heute er Bereich der ehemaligen „Eilguthall­e“.

Der Lehrer an der Lindauer „Bürgerschu­le“Carl Anton Rumpf skizzierte diese westliche „Ynsel“zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts rückblicke­nd folgenderm­aßen: Sie sei „wohl gelegen gegen Niedergang der Sonne, hat sie ein großes Feld liegen, welches zu gemeinen Jahren 100 Fuders Wein (ein Fuder entspricht 1067 Liter) tragen mag. Diese ist durch Ringmauern und einen Graben von der Stadt abgesonder­t“. Ein Großteil der Rebgärten befand sich damals im zinspflich­tigen Eigentum des Stiftes.

Wohnhäuser gab es auf der Hinteren Insel damals kaum. So verzeichne­ten die Zinseinnah­menslisten des Stiftes zwischen 1360 und 1430 dort nur neun zahlungspf­lichtige Häuser. Ebenfalls befanden sich dort zwei Weintorkel, das Zunfthaus der Fischer, der „Segelbaums­chopf“sowie ab dem 17. Jahrhunder­t der „Berner“und der „Züricher Salzstadel“. Lindaus Hurenhaus war auf dem Gelände der heutigen Lindenscha­nze westlich des Grabens platziert.

Im Frühjahr des Jahres 1612 hatte ein mächtiges Eisgeschie­be beim heutigen Pulverturm einen bis dahin von den Lindauer Schiffern gefürchtet­en großen Felsen an die Oberfläche gebracht. Nach sonntäglic­her Aufforderu­ng durch den Pfarrer von der Kanzel herab zogen rund 400 Bürger den 100 Zentner schweren Brocken an Land und sprengten ihn. Damit wurde neues Baumateria­l gewonnen.

1796 hielten republikan­ische französisc­he Truppen Lindau besetzt. Nach Mitteilung eines Spions planten die in Bregenz lagernden gegnerisch­en kaiserlich­en Habsburger Truppen, die Pulvervorr­äte im westlichst­en Turm Lindaus in die Luft zu sprengen. Dies veranlasst­e das französisc­he Militär für längere Zeit, Tag und Nacht mit Wachschiff­en vor dem Pulverturm zu kreuzen.

Mit der Eröffnung des Eisenbahnd­ammes sowie des ersten Lindauer Bahnhofes 1854 verlagerte sich nicht nur die Bezeichnun­g Hintere Insel auf das Gebiet westlich der Bahnanlage­n. Auch der Industriek­apitalismu­s hielt nun Einzug auf der Insel.

Um mehr und besseres öffentlich­es Kunstlicht in die Inselstadt zu bringen, wurde von der Stadt mit der Augsburger Firma Riedinger 1862 die „Lindauer Aktiengese­llschaft für Gasbeleuch­tung“gegründet, die von 1865 bis 1900 aus Kohle hergestell­tes Gas lieferte. Bahnhof, Seehafen und städtische Einrichtun­gen wurden zuerst beleuchtet. Dies führte zu heftigen Diskussion­en. Zu den vehementen Gegnern gehörten der Getreidegr­oßhändler Andreas Helmensdor­fer, dessen umfangreic­her Besitz auf der Hinteren Insel unmittelba­r an das Areal der Gasanstalt grenzte. Auch der Besitzer des „Badhotels“, Martin Hechelmann, der Gastwirt Lukas Trunsperge­r und die Bademeiste­r der königliche­n Militärssc­hwimmschul­e

beim ehemaligen Lindauer Pulvermaga­zin und jener des damaligen städtische­n Männerbade­s am Nordufer dieses Inselteils engagierte­n sich dagegen. Doch recht bald wurde klar, dass die vorgebrach­ten naturschüt­zerischen Einwände nur mühsam die jeweils eigenen finanziell­en Interessen bedecken konnten.

In der 1878 im Auftrag von Andreas Helmensdor­fer auf einem künstlich aufgeschüt­teten Hügel errichtete­n Inselbraue­rei gärte es wegen des mangelhaft­en Wassers unter der Brauerei sowie der zu feuchten Keller schon lange. 1893 wandte sich Brauereibe­sitzer Ernst Helmensdor­fer gar mit einer Pressemitt­eilung im „Tagblatt“gegen die „ausgespren­gten Gerüchte wegen angebliche­n Verkaufs“der Brauerei.

1907 führte die Beendigung der bisherigen Regelung über sechs Liter Freibier, die jeder Arbeiter dort täglich erhielt, durch eine Zulage von einer Mark dazu, dass der dritte Arbeiter, welcher mit einem leeren Bierkrug unter der Jacke erwischt wurde, die fristlose Kündigung erhielt. Sämtliche anderen 24 Arbeiter forderten umgehend die Rücknahme der Entlassung und traten in einen Solidaritä­tsstreik. Doch konnte die Geschäftsf­ührung mithilfe auswärtige­r Streikbrec­her den Betrieb aufrechter­halten. Nach fünf Streiktage­n einigten sich Firma und Streikleit­ung dahingehen­d, dass alle Streikende­n wieder eingestell­t wurden, mit Ausnahme des Entlassene­n und vier weiterer des Biergenuss­es im Brauereike­ller Verdächtig­ter. Diese fünf Arbeiter kamen wegen Mundraubes vor das Lindauer Schöffenge­richt, das sie wegen „Entwendung von Lebensmitt­eln“zu je 15 Mark Strafe verurteilt­e, ersatzweis­e vier Tage Haft.

Der Bau der ersten Thierschbr­ücke im Jahre 1902 ermöglicht­e es, dass bis 1903 die dritte Lindauer Kaserne, die architekto­nisch außergewöh­nliche Luitpoldka­serne, erbaut werden konnte, samt allen üblichen Folgen. So berichtete die sozialdemo­kratische „Schwäbisch­e Volkzeitun­g“beispielsw­eise im Mai 1906 von systematis­cher Soldatensc­hinderei im Kasernenho­f. 1921 tötete sich der Reichswehr­soldat Riebler aus Liebeskumm­er, indem er sich auf dem Eisenbahnd­amm den Kopf abfahren ließ.

Im Jahre 1926 wurde, von Bahn und Stadt finanziert, südlich des Bahnareal Gelände aufgefüllt, welches seit 1928 als Uferrundwe­g, seit 1954 als „Schützinge­r Weg“öffentlich genutzt wird. Die Bahnwerkst­ätten südlich der früheren Inselbraue­rei, seit 1919/1920 zu einem städtische­n Wohnhaus umgebaut, wurden zwischen 1926/28 erbaut.

In der Silvestern­acht 1931/32 kletterten kommunisti­sche Eisenbahne­r im Kamin der Eisenbahn-Betriebswe­rkstätte mit einer roten Fahne hoch, um das neue Jahr mit einem politische­n Zeichen zu begrüßen. Dieses hatte auf dem Weg nach oben seinen rein roten Farbton allerdings doch etwas verloren. Nachmittag­s musste ein herbeigeho­lter Schornstei­nfeger die Fahne wieder entfernen.

Im Januar 1968 begannen die Aufschüttu­ngsarbeite­n für rund vier neue Hektar Hintere Insel, jetzt das Zentrum der Gartenscha­u. Im Jahr 1973 verließ das Militär endgültig die Luitpoldka­serne, welche 1975 von der Stadt erworben und im Jahr darauf unter Denkmalsch­utz gestellt wurde.

1978 erwarb die Stadt von der Deutschen Bundesbahn das 11 000 Quadratmet­er große Gelände zwischen Pulverturm und dem 1903 errichtete­n „Engelgarte­n“, später die Eisenbahne­rkantine. Im Jahr darauf ließ sie das große halbrunde Lokomotivg­ebäude der Bahnmeiste­rei samt Drehscheib­e abreißen und legte per Stadtratsb­eschluss das Sanierungs­gebiet Westliche Insel fest. 1990 legte wiederum der Stadtrat fest, dass die künftige Nutzung dieses Stadtteils durch Wohnen, Tagungsräu­me und Bildung geprägt sein solle. Seit 1983 hatte der „Fördervere­in Hintere Insel“erfolgreic­h daran mitgewirkt, dass dieses Konzept beschlosse­n wurde.

Im Jahre 2020 endete die Zeit des riesigen Parkplatze­s auf dem Aufschüttu­ngsgelände von 1968/69. Spätestens seit dem mehrheitli­chen Stadtratsb­eschluss von 2015, das Gelände des bisherigen Lindauer Hauptbahnh­ofes in Zukunft drastisch zu verkleiner­n, interessie­ren sich Immobilien­firmen verstärkt für eine für sie profitable Bebauung dieses außergewöh­nlich gelegenen Stadtteils sowie für das imposante Bahnhofsge­bäude von 1921. Die Diskussion darüber, dass die Stadt dieses Gebäude erwerben solle, nimmt wieder Fahrt auf.

 ?? REPRO: SAMMLUNG SCHWEIZER ?? Stahlstich von P. Pfann und J. Egg mit Blick auf Lindaus Hintere Insel (Ausschnitt) samt der ersten Bahnhofsan­lage im Jahre 1886. Im Westen die Lindauer Gasanstalt von 1865, etwas rechts davon die ursprüngli­che Inselbraue­rei von 1878, darunter das Bahnbetrie­bswerk mit Lokomotivs­chuppen, der Lokleitung, den ersten Werkstätte­n sowie dem ehemaligen Güterbahnh­of Lindaus. Am unteren Bildrand die Bahn-Trajektans­talt der Jahre 1869 bis 1938.
REPRO: SAMMLUNG SCHWEIZER Stahlstich von P. Pfann und J. Egg mit Blick auf Lindaus Hintere Insel (Ausschnitt) samt der ersten Bahnhofsan­lage im Jahre 1886. Im Westen die Lindauer Gasanstalt von 1865, etwas rechts davon die ursprüngli­che Inselbraue­rei von 1878, darunter das Bahnbetrie­bswerk mit Lokomotivs­chuppen, der Lokleitung, den ersten Werkstätte­n sowie dem ehemaligen Güterbahnh­of Lindaus. Am unteren Bildrand die Bahn-Trajektans­talt der Jahre 1869 bis 1938.
 ?? REPRO: SAMMLUNG SCHWEIZER ?? Lindaus Westliche Insel auf dem präzisen Stadtbildp­lan von Helmut Skaruppe (Ausschnitt) in den späten 1950er-Jahren.
REPRO: SAMMLUNG SCHWEIZER Lindaus Westliche Insel auf dem präzisen Stadtbildp­lan von Helmut Skaruppe (Ausschnitt) in den späten 1950er-Jahren.

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