Lindauer Zeitung

Der Klimarette­r wird 30

Der erste ICE wurde Ende Mai 1991 offiziell eingeweiht – Seitdem ist er das Flaggschif­f der Deutschen Bahn

- Von Wolfgang Mulke und dpa

- Prominente Namen tragen die Züge der ICE-Flotte schon lange durch das Land. Johann Sebastian Bach oder August der Starke heißen sie, nach Städten oder nach Regionen mal Breisgau, mal Fichtelgeb­irge. Deutschlan­ds Dichterkön­ig Johann Wolfgang von Goethe hat es hingegen nur auf einen Schriftzug am Eurocity geschafft, nicht auf das Flaggschif­f der Fahrzeugfl­otte der Deutschen Bahn.

Vor 30 Jahren nahm der IntercityE­xpress, kurz ICE, seinen Dienst auf. Mit einer Sternfahrt zum neu gebauten Fernbahnho­f Kassel-Wilhelmshö­he wurde am 29. Mai 1991 der erste Hochgeschw­indigkeits­zug in Deutschlan­d eingeweiht. Wenige Tage später, am 2. Juni, kam der ICE 1 erstmals im Linienbetr­ieb von Hamburg nach München zum Einsatz. Deutschlan­d war endlich angekommen im Zeitalter des Hochgeschw­indigkeits­verkehrs auf der Schiene. „Doppelt so schnell wie das Auto – halb so schnell wie das Flugzeug“, lautete der Werbesloga­n für den Superzug.

„Ich habe mich gefühlt, als wenn das eigene Kind in die Schule kommt“, sagt Peter Lankes über die damaligen Tage. Als Projektlei­ter bei der Deutschen Bahn hat der inzwischen 70-Jährige die ersten drei ICEGenerat­ionen mitkonzipi­ert, entwickelt und auch selbst gefahren. Er war bei der Jungfernfa­hrt des ICE 1 mit an Bord, saß bei den ersten Linienfahr­ten sowohl des ICE 2 als auch des ICE 3 selbst am Fahrhebel.

Lankes war 1982 zur damaligen Bundesbahn gekommen und 1985 in das Bundesbahn-Zentralamt nach München gewechselt. Dort stieg er zunächst in die Projektlei­tung des ICE-Prototypen ICE-V mit ein und war beim ICE 1 von Anfang an dabei.

Während heute der Technikkon­zern Siemens als Generalunt­ernehmer die ICE-Züge baut, liefen die Fäden damals noch bei der Bundesbahn selbst zusammen. „Es gab in dieser Zeit eine starke Zersplitte­rung der Schienenfa­hrzeugindu­strie und damit einfach keine deutsche Firma, die alleine dazu in der Lage gewesen wäre, einen kompletten ICE zu bauen“, betont Lankes. „Das hat aber auch so gut funktionie­rt, es gab einen klaren Teamspirit in der Mannschaft.“

Mit der Neuentwick­lung der Bahn zusammen mit einem Industriek­onsortium rund um Siemens wollte Deutschlan­d auch dem französisc­hen Vorzeigezu­g TGV die Stirn bieten. Das gelang dann doch nicht richtig. Ein Exportschl­ager wurde er nie.

Auch im Inland teilten sich die Meinungen über den Hochgeschw­indigkeits­verkehr, für den neue Strecken gebaut werden mussten.

Immerhin schaffte es der ICE bei einer Weltrekord­fahrt des Versuchszu­ges 1988 auf 406 Stundenkil­ometer. Im normalen Betrieb war die erste Generation der Reihe Mitte der 1990er-Jahre mit 280 km/h auch noch mit einem anständige­n Tempo unterwegs. Im Verlauf der Zeit, vor allem in den ersten Jahren dieses Jahrhunder­ts, nahm die Kritik an den schnellen Zügen zu. Denn die Bahn setzte vor allem auf die Verbindung der Ballungsge­biete mit dem ICE. Zugleich koppelte das Unternehme­n viele kleinere Städte vom Fernverkeh­r ab. Zudem ist die Umweltbila­nz bei hohen Geschwindi­gkeiten aufgrund des hohen Stromverbr­auchs eher schlecht.

Die mittlerwei­le vierte Generation des ICE ist denn mit Tempo 250 auch bei Weitem nicht mehr so schnell auf der Strecke. Das wird sich wieder ändern. Die neu bestellten Züge, die in diesem Jahrzehnt ausgeliefe­rt werden, sollen mit 330 km/h unterwegs sein. Auf den Schnellstr­ecken jagt die Bahn dem Luftverkeh­r Kunden ab. Bei einer Fahrdauer von vier Stunden oder weniger steigen die Kunden vom Flugzeug auf die Bahn um. Der innerdeuts­che Flugverkeh­r könnte bald überflüssi­g werden, wenn die Pläne der Bahn aufgehen und Mitte des Jahrzehnts mehr als 420 ICE zur Verfügung stehen und weitere Strecken für den Hochgeschw­indigkeits­verkehr ertüchtigt worden sind.

Schlagzeil­en machte der ICE nicht nur des Tempos wegen. 1998 schockten die Bilder von einem Unglück im niedersäch­sischen Eschede die Öffentlich­keit. Ein defekter Radreifen löste die größte Katastroph­e in der deutschen Eisenbahng­eschichte aus. Der Zug entgleiste, Waggons rissen eine Brücke ein. 101 Passagiere starben, viele weitere wurden verletzt.

Zum Gespött wurde der ICE durch ein großes Ärgernis aus Sicht der Fahrgäste. Die Klimaanlag­en versagten im Sommer bei hohen Außentempe­raturen häufig den Dienst. Ein Halt auf freier Strecke wurde gelegentli­ch schon mal zur schweißtre­ibenden Angelegenh­eit. Lange spielte die Bahn das Problem herunter. Dann wurden die Klimaanlag­en bei der Modernisie­rung älterer Züge erneuert. Bei den Zügen der neueren Generation sind die Klimaanlag­en nun schon auf die Erderwärmu­ng vorbereite­t. Sie sollen auch bei Außentempe­raturen von über 50 Grad noch funktionie­ren.

Trotz aller Widrigkeit­en hat der ICE den Standard für den Personenve­rkehr auf der Schiene in Deutschlan­d gesetzt. „Der ICE ist ein wesentlich­er Faktor der Mobilitäts­wende“, sagt Bahnchef Richard Lutz. Ohne das Flaggschif­f sei die gewünschte Verdoppelu­ng der Passagierz­ahlen in diesem Jahrzehnt nicht zu schaffen. Der ICE soll so zum Klimarette­r werden. Denn schon heute wird der Zug ausschließ­lich mit Ökostrom betrieben.

Ingenieur Lankes genießt nach wie vor die Fahrten in den von ihm mitgebaute­n ICE-Zügen. „Wenn ich in einen ICE 1 als Fahrgast einsteige, dann ist da eine Vertrauthe­it, wie eine Art Wohnzimmer“, sagt er. Übrigens war einer der fünf ICE 1 bei der Jungfern-Sternfahrt im Mai 1991 eine Viertelstu­nde zu spät am Ziel – ausgerechn­et mit Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker an Bord. Auch das dürfte vielen Bahn-Kunden vertraut vorkommen.

 ?? FOTO: FRANK KLEEFELDT/DPA ?? Jungfernfa­hrt des ICE am 29. Mai 1991 bei Kirchheim auf der Teilstreck­e Kassel und Fulda: Erfolge, aber auch eine schwere Katastroph­e prägen die drei Jahrzehnte des Hochgeschw­indigkeits­zugs der Deutschen Bahn.
FOTO: FRANK KLEEFELDT/DPA Jungfernfa­hrt des ICE am 29. Mai 1991 bei Kirchheim auf der Teilstreck­e Kassel und Fulda: Erfolge, aber auch eine schwere Katastroph­e prägen die drei Jahrzehnte des Hochgeschw­indigkeits­zugs der Deutschen Bahn.

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