Ungleichgewicht zwischen den Generationen
Die Privilegien der Älteren treten in der Spätphase der Pandemie deutlich hervor – Nicht immer nur die Jungen sollten Danke sagen
Das Telefon klingelt, es ist die Sprechstundenhilfe des Hausarztes meiner Frau – sie fragt fast entschuldigend, ob wir nicht vielleicht geimpft werden wollen. An einem Freitagvormittag. Sofort sagen wir ja und richten uns ganz nach dem Terminvorschlag. Die Impfung – jetzt schon? Dass wir eigentlich noch nicht dran waren, erklären wir verwundert später in der Praxis, während uns der Arzt ein Pflaster über die Einstichstelle klebt. Wie wir zu unserem Glück kommen, sagt uns dann die Sprechstundenhilfe: „Die über 60-Jährigen, die wir vor Ihnen angerufen haben, hatten an diesem Tag alle etwas Besseres zu tun.“Einen Ausflug. Kochen. Gartenarbeit. Die Gründe, warum wertvoller Impfstoff kurz vor dem Wochenende zu verderben drohte, waren durchaus banal. Nach so langer Zeit des Lockdowns, nach so einer sozial entbehrungsreichen Zeit, in der vor allem junge Menschen große Opfer gebracht haben, klingt das wie Hohn. Wir haben uns nicht nur den Oberarm, sondern auch ungläubig die Augen gerieben.
Mit dem Ende einer Ära ist es ein bisschen so wie mit einem versteckten kleinen Leck in der Leitung: Das Problem wird erst dann richtig sichtbar, wenn der Keller unter Wasser steht. Dann hilft kein Wegsehen mehr. Obwohl es lange Zeit möglich war, das leichte aber stetige Tropfen zu ignorieren. Oder so zu tun, als seien die paar Pfützen, die sich schon früh aufgetan haben, nicht so schlimm. Wird schon wieder trocknen. Genauso haben wir die Zeitenwende im Verhältnis zwischen den Generationen lange Zeit übersehen. Und die damit verbundenen eklatanten Wohlstandslücken, die sich an diesen Rändern immer stärker auftun. Doch seit Corona sind die Bruchlinien so deutlich, dass Wegsehen einfach nicht mehr geht.
Für einen heutigen Menschen, der Ende 40 ist, war es in seiner Kindheit und Jugend mehrheitlich selbstverständlich, älteren Personen mit besonderem Respekt zu begegnen. Unabhängig von sachlichen Gründen. Alter implizierte Erfahrung, Weisheit, Vorbildlichkeit. Zumindest in meiner Erziehung. Sie hätten dieses Land mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut, hieß es. Es gebühre ihnen vorbehaltlose Anerkennung. Es bedurfte während meines Heranwachsens keinerlei Belege, warum das so und nicht anders richtig war. Ebensowenig irgendeiner Erklärung, warum ein Senior grußlos an mir vorbeimarschieren durfte, während ich selbst in den Senkel gestellt wurde, sollte ich einmal gedankenverloren den Gruß vergessen haben. Und heute?
Gehören die Menschen, die heute in Rente sind, schon zu den Nachgeborenen, die die Früchte ernten, die von der Nachkriegsgeneration gesät worden waren.
Diese Generation ist es mehrheitlich auch, für die das Wohlstandsversprechen unter der Voraussetzung von Fleiß und Mut aufgegangen ist. Deren Arbeit sich für die meisten lohnte. Die dann in der Lage waren, ein Stückchen Baugrund zu kaufen und ein Häuschen drauf zu stellen. Um das zu schaffen, genügte die
Ausübung eines ehrbaren Handwerksberufs, während sich daheim viele Frauen – höchstens in Teilzeit beschäftigt – um die
Kinder kümmerten.
Heute ist es mit ehrbarer Arbeit und ohne erhebliches Erbe – selbst AkademikerDoppelhaushalte müssen äußerst scharf kalkulieren – fast nicht mehr zu schaffen, sich diesen ehemals für alle realistisch greifbaren kleinen Traum zu verwirklichen.
Ich möchte niemandem seine Lebensleistung absprechen. Aber in den Debatten um Gerechtigkeit und gesellschaftliche Fairness liegt unser Fokus zu stark auf der heutigen Seniorengeneration – wobei ich jenen noch kleinen, aber stetig wachsenden Anteil von Betagten ausdrücklich ausnehme, die trotz eines arbeitsreichen Lebens kaum von ihrer Rente existieren können. Wir verschließen mit dem Hinweis auf Ärmere gerne die Augen davor, dass es die Älteren von heute sind, die über die Mittel verfügen. Dass sie es sind, denen Grund und Boden samt Immobilien gehören. Dass sie es mehrheitlich sind, die davon profitieren, wenn Quadratmeterpreise – egal ob gemietet oder gekauft – astronomische Höhen erreichen, weil sie fast ausschließlich auf der Verkäufer- und Vermieterseite stehen.
Und wir schützen von politischer Seite her deren Interessen in einem Ausmaß, dass uns fast vergessen macht, dass die Lebensleistung der Jüngeren ja auch etwas wert ist. In Stunden und Lohn gerechnet vielleicht sogar noch ein bisschen mehr – denn die Jüngeren werden es sein, die inflationsbereinigt aller Voraussicht nach im Durchschnitt deutlich länger für weniger Geld werden arbeiten müssen, während sie eine immer größer werdende Ruheständlergeneration zu finanzieren haben. Und zeitgleich für sie selbst das Rentenniveau sinkt.
Ich möchte mich an dieser Stelle nicht zu nahe ans klimapolitische Pulverfass wagen, aber auch diese Debatte ist geprägt von einem starken Altersgefälle. Auch auf diesem gesellschaftlichen Drahtseil herrscht ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Generationen und weniger ein Miteinander. Klar gibt es auf diesem Gebiet junge politische Gegenbewegungen, um etwas zu verändern. Aber ob das nachhaltig gelingt, entscheidet wesentlich die Generation, die heute aufgrund ihrer finanziellen Mittel und politischen Wucht an der Wahlurne das Sagen hat.
Solche Dinge anzusprechen, klingt immer gleich danach, alle pauschal über einen Kamm scheren zu wollen. Das ist sicher nicht richtig. Denn verantwortungsbewusstes Handeln und der Respekt voreinander ist keine Frage des Alters, sondern des gesunden Menschenverstandes. Und der kann individuell mit 14 bereits ausgereift sein – oder mit 73 womöglich immer noch nicht. Es gibt aber unbestreitbar ein paar sehr gute Gründe, das Dogma zu hinterfragen, nach dem die jüngere Generation gefälligst per se dankbar zu sein hat, so wie man es mir als Kind noch eintrichterte.
Denn de facto ist es so, dass es in der Corona-Zeit außerordentlich viele Beispiele für sogenannten jugendlichen Leichtsinn in der Altersgruppe 60 plus gegeben hat. Das beginnt bei der Verweigerung des Impfstoffs Astrazeneca, über den viele Arztpraxen klagen, und der doch gerade für die Älteren dringend empfohlen wird – und für die Jüngeren eben nicht. Ihn zu verschmähen, verlängert die Impfkampagne insgesamt und damit die Pandemie-Lähmung aller. Das geht weiter bei explosionsartigen Infektionsereignissen aufgrund von sorglosen Wandergesellschaften, die sich zur Brotzeit in eine Hütte quetschen. Und er findet ebenfalls seinen Ausdruck darin, wegen Banalitäten Impfangebote auszuschlagen, weil man vielleicht lieber einen Ausflug machen möchte oder geplant hat, an diesem Tag die Radieschen im Garten zu setzen. Während viele Junge langsam verzweifeln, weil sie sich an Beschränkungen halten – und sich nichts sehnlicher wünschen, als endlich geimpft zu sein. Damit dieser zwischenmenschliche Isolations-Alptraum ein Ende hat.
Wir alle neigen immer dann dazu, wenn Privilegien uns selbst zugute kommen, sie nicht mehr ganz so ungerecht zu finden. In der jetzt kommenden Zeit eines neuen Aufbruchs ist genau der richtige Augenblick, um darüber nachzudenken, wie wir unsere Gesellschaft wieder ein Stück weit solidarischer machen. Wie wir wieder ein bisschen näher zusammenwachsen und das „Wir“größer schreiben als das „Ich“. Sonst wird die infektiologisch auferlegte soziale Distanz die Pandemie überdauern und größer werden.
Dass eine Krise die Menschen stärker zusammenschweißt, hat Corona leider nicht ausreichend unter Beweis gestellt, um es freundlich zu formulieren. Eine politische Aufgabe ist und bleibt es, die intergenerationellen Gräben zu verkleinern. Der Schlüssel dazu ist eine gerechtere Gesellschaft. Unabhängig, ob wir nun eine Pandemie haben oder nicht. Sicher eine Mammutaufgabe, ja ein Menschheitsprojekt. Aber jede Mühe wert.