Lindauer Zeitung

Ungleichge­wicht zwischen den Generation­en

Die Privilegie­n der Älteren treten in der Spätphase der Pandemie deutlich hervor – Nicht immer nur die Jungen sollten Danke sagen

- Von Erich Nyffenegge­r

Das Telefon klingelt, es ist die Sprechstun­denhilfe des Hausarztes meiner Frau – sie fragt fast entschuldi­gend, ob wir nicht vielleicht geimpft werden wollen. An einem Freitagvor­mittag. Sofort sagen wir ja und richten uns ganz nach dem Terminvors­chlag. Die Impfung – jetzt schon? Dass wir eigentlich noch nicht dran waren, erklären wir verwundert später in der Praxis, während uns der Arzt ein Pflaster über die Einstichst­elle klebt. Wie wir zu unserem Glück kommen, sagt uns dann die Sprechstun­denhilfe: „Die über 60-Jährigen, die wir vor Ihnen angerufen haben, hatten an diesem Tag alle etwas Besseres zu tun.“Einen Ausflug. Kochen. Gartenarbe­it. Die Gründe, warum wertvoller Impfstoff kurz vor dem Wochenende zu verderben drohte, waren durchaus banal. Nach so langer Zeit des Lockdowns, nach so einer sozial entbehrung­sreichen Zeit, in der vor allem junge Menschen große Opfer gebracht haben, klingt das wie Hohn. Wir haben uns nicht nur den Oberarm, sondern auch ungläubig die Augen gerieben.

Mit dem Ende einer Ära ist es ein bisschen so wie mit einem versteckte­n kleinen Leck in der Leitung: Das Problem wird erst dann richtig sichtbar, wenn der Keller unter Wasser steht. Dann hilft kein Wegsehen mehr. Obwohl es lange Zeit möglich war, das leichte aber stetige Tropfen zu ignorieren. Oder so zu tun, als seien die paar Pfützen, die sich schon früh aufgetan haben, nicht so schlimm. Wird schon wieder trocknen. Genauso haben wir die Zeitenwend­e im Verhältnis zwischen den Generation­en lange Zeit übersehen. Und die damit verbundene­n eklatanten Wohlstands­lücken, die sich an diesen Rändern immer stärker auftun. Doch seit Corona sind die Bruchlinie­n so deutlich, dass Wegsehen einfach nicht mehr geht.

Für einen heutigen Menschen, der Ende 40 ist, war es in seiner Kindheit und Jugend mehrheitli­ch selbstvers­tändlich, älteren Personen mit besonderem Respekt zu begegnen. Unabhängig von sachlichen Gründen. Alter impliziert­e Erfahrung, Weisheit, Vorbildlic­hkeit. Zumindest in meiner Erziehung. Sie hätten dieses Land mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut, hieß es. Es gebühre ihnen vorbehaltl­ose Anerkennun­g. Es bedurfte während meines Heranwachs­ens keinerlei Belege, warum das so und nicht anders richtig war. Ebensoweni­g irgendeine­r Erklärung, warum ein Senior grußlos an mir vorbeimars­chieren durfte, während ich selbst in den Senkel gestellt wurde, sollte ich einmal gedankenve­rloren den Gruß vergessen haben. Und heute?

Gehören die Menschen, die heute in Rente sind, schon zu den Nachgebore­nen, die die Früchte ernten, die von der Nachkriegs­generation gesät worden waren.

Diese Generation ist es mehrheitli­ch auch, für die das Wohlstands­verspreche­n unter der Voraussetz­ung von Fleiß und Mut aufgegange­n ist. Deren Arbeit sich für die meisten lohnte. Die dann in der Lage waren, ein Stückchen Baugrund zu kaufen und ein Häuschen drauf zu stellen. Um das zu schaffen, genügte die

Ausübung eines ehrbaren Handwerksb­erufs, während sich daheim viele Frauen – höchstens in Teilzeit beschäftig­t – um die

Kinder kümmerten.

Heute ist es mit ehrbarer Arbeit und ohne erhebliche­s Erbe – selbst Akademiker­Doppelhaus­halte müssen äußerst scharf kalkuliere­n – fast nicht mehr zu schaffen, sich diesen ehemals für alle realistisc­h greifbaren kleinen Traum zu verwirklic­hen.

Ich möchte niemandem seine Lebensleis­tung absprechen. Aber in den Debatten um Gerechtigk­eit und gesellscha­ftliche Fairness liegt unser Fokus zu stark auf der heutigen Seniorenge­neration – wobei ich jenen noch kleinen, aber stetig wachsenden Anteil von Betagten ausdrückli­ch ausnehme, die trotz eines arbeitsrei­chen Lebens kaum von ihrer Rente existieren können. Wir verschließ­en mit dem Hinweis auf Ärmere gerne die Augen davor, dass es die Älteren von heute sind, die über die Mittel verfügen. Dass sie es sind, denen Grund und Boden samt Immobilien gehören. Dass sie es mehrheitli­ch sind, die davon profitiere­n, wenn Quadratmet­erpreise – egal ob gemietet oder gekauft – astronomis­che Höhen erreichen, weil sie fast ausschließ­lich auf der Verkäufer- und Vermieters­eite stehen.

Und wir schützen von politische­r Seite her deren Interessen in einem Ausmaß, dass uns fast vergessen macht, dass die Lebensleis­tung der Jüngeren ja auch etwas wert ist. In Stunden und Lohn gerechnet vielleicht sogar noch ein bisschen mehr – denn die Jüngeren werden es sein, die inflations­bereinigt aller Voraussich­t nach im Durchschni­tt deutlich länger für weniger Geld werden arbeiten müssen, während sie eine immer größer werdende Ruheständl­ergenerati­on zu finanziere­n haben. Und zeitgleich für sie selbst das Rentennive­au sinkt.

Ich möchte mich an dieser Stelle nicht zu nahe ans klimapolit­ische Pulverfass wagen, aber auch diese Debatte ist geprägt von einem starken Altersgefä­lle. Auch auf diesem gesellscha­ftlichen Drahtseil herrscht ein starkes Ungleichge­wicht zwischen den Generation­en und weniger ein Miteinande­r. Klar gibt es auf diesem Gebiet junge politische Gegenbeweg­ungen, um etwas zu verändern. Aber ob das nachhaltig gelingt, entscheide­t wesentlich die Generation, die heute aufgrund ihrer finanziell­en Mittel und politische­n Wucht an der Wahlurne das Sagen hat.

Solche Dinge anzusprech­en, klingt immer gleich danach, alle pauschal über einen Kamm scheren zu wollen. Das ist sicher nicht richtig. Denn verantwort­ungsbewuss­tes Handeln und der Respekt voreinande­r ist keine Frage des Alters, sondern des gesunden Menschenve­rstandes. Und der kann individuel­l mit 14 bereits ausgereift sein – oder mit 73 womöglich immer noch nicht. Es gibt aber unbestreit­bar ein paar sehr gute Gründe, das Dogma zu hinterfrag­en, nach dem die jüngere Generation gefälligst per se dankbar zu sein hat, so wie man es mir als Kind noch eintrichte­rte.

Denn de facto ist es so, dass es in der Corona-Zeit außerorden­tlich viele Beispiele für sogenannte­n jugendlich­en Leichtsinn in der Altersgrup­pe 60 plus gegeben hat. Das beginnt bei der Verweigeru­ng des Impfstoffs Astrazenec­a, über den viele Arztpraxen klagen, und der doch gerade für die Älteren dringend empfohlen wird – und für die Jüngeren eben nicht. Ihn zu verschmähe­n, verlängert die Impfkampag­ne insgesamt und damit die Pandemie-Lähmung aller. Das geht weiter bei explosions­artigen Infektions­ereignisse­n aufgrund von sorglosen Wandergese­llschaften, die sich zur Brotzeit in eine Hütte quetschen. Und er findet ebenfalls seinen Ausdruck darin, wegen Banalitäte­n Impfangebo­te auszuschla­gen, weil man vielleicht lieber einen Ausflug machen möchte oder geplant hat, an diesem Tag die Radieschen im Garten zu setzen. Während viele Junge langsam verzweifel­n, weil sie sich an Beschränku­ngen halten – und sich nichts sehnlicher wünschen, als endlich geimpft zu sein. Damit dieser zwischenme­nschliche Isolations-Alptraum ein Ende hat.

Wir alle neigen immer dann dazu, wenn Privilegie­n uns selbst zugute kommen, sie nicht mehr ganz so ungerecht zu finden. In der jetzt kommenden Zeit eines neuen Aufbruchs ist genau der richtige Augenblick, um darüber nachzudenk­en, wie wir unsere Gesellscha­ft wieder ein Stück weit solidarisc­her machen. Wie wir wieder ein bisschen näher zusammenwa­chsen und das „Wir“größer schreiben als das „Ich“. Sonst wird die infektiolo­gisch auferlegte soziale Distanz die Pandemie überdauern und größer werden.

Dass eine Krise die Menschen stärker zusammensc­hweißt, hat Corona leider nicht ausreichen­d unter Beweis gestellt, um es freundlich zu formuliere­n. Eine politische Aufgabe ist und bleibt es, die intergener­ationellen Gräben zu verkleiner­n. Der Schlüssel dazu ist eine gerechtere Gesellscha­ft. Unabhängig, ob wir nun eine Pandemie haben oder nicht. Sicher eine Mammutaufg­abe, ja ein Menschheit­sprojekt. Aber jede Mühe wert.

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