Die Show geht weiter – aber anders
Das Interesse an Model-Zickenkrieg und Bohlen-Beleidigungen hat deutlich abgenommen
(dpa) - Demütigung und Provokation als TV-Erfolg: 20 Jahre Castingshows haben die Republik geprägt. Doch jetzt ist Langzeit-Oberjuror Dieter Bohlen bei „DSDS“raus. Stirbt das Genre nun aus und werden jetzt alle seriös?
Tausende junge Frauen wollen Deutschlands nächstes „Topmodel“werden, Hobby-Sänger lassen sich für ein bisschen Ruhm demütigen: Doch auch die Vorzeigeformate wie Heidi Klums „Germany’s Next Topmodel“, „Deutschland sucht den Superstar“und „The Voice of Germany“kämpfen mit sinkendem Interesse, zumindest bei den absoluten Zuschauerzahlen. Das Finale von „The Voice Kids“hatte vor Kurzem so wenige Zuschauer wie noch nie. Ist die klassische Castingshow also mittlerweile ein Phänomen von gestern?
Ausreichende Marktanteile im breiter gewordenen Bewegtbildmarkt lassen die Sender an den Formaten zwar festhalten. ProSieben etwa feiert die aktuellen „Topmodel“Folgen als „die erfolgreichste Staffel seit Jahren“und erreichte mit dem Finale am vergangenen Donnerstag tatsächlich den Spitzenplatz bei den Quoten, doch der Zuschauerschwund ist im Vergleich zu den besten Zeiten deutlich, und bei DSDS ist bekanntlich sogar der prägende Oberjuror Dieter Bohlen raus.
„Ich denke nicht, dass das Casting-Zeitalter komplett vorbei ist“, sagt Katrin Döveling, Professorin für Kommunikationswissenschaften und Medienkommunikation in Darmstadt. „Die Casting-Landschaft hat sich jedoch verändert und andere Formen des Tele-Darwinismus flimmern nun in die deutschen Wohnzimmer.“Formate wie „Kitchen Impossible“und „Die Höhle der Löwen“zeigten, dass es nicht mehr nur allein um Show und Bühnenpräsenz gehe, sondern auch ums Können, sagt Döveling. „The show must go on. Aber anders.“Gerade in Zeiten von Corona habe sich zudem das Freizeitverhalten noch einmal stark verändert. „Vor allem junge Menschen sind nun noch mehr online, posten in sozialen Medien. Da hat man wenigstens noch das Gefühl, wenn man schon sonst isoliert ist, teilhaben zu können.“
Schon vor zehn Jahren gab es Abgesänge auf die vielen Casting-Formate. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen rief damals die „Casting-Gesellschaft“aus, überall sei die Sucht nach Aufmerksamkeit allgegenwärtig. Millionen Menschen wollten endlich „stattfinden“und Promi werden, dafür sei ihnen auch der Preis nicht zu hoch, vor Millionen verhöhnt zu werden.
Mutter der modernen Castingshows war in Deutschland ab Herbst 2000 das Format „Popstars“bei
RTLzwei, aus dem die Frauenband No Angels hervorging. Es folgte „Deutschland sucht den Superstar“, das auf dem britischen Vorbild „Pop Idol“beruht. Wettbewerbsformate wie „Das Supertalent“(RTL), „Star Search“(ProSieben), „Die deutsche Stimme“(ZDF), „The next Uri Geller“(ProSieben), „X Factor“(Vox), „The Voice of Germany“(ProSieben/Sat.1), „Germany’s Next Topmodel“(ProSieben) oder auch die von Stefan Raab organisierte und mit Lena erfolgreiche Talentsuche für den Eurovision Song Contest 2010 folgten daraufhin. Doch schon Formate wie Heidi Klums „Queen of Drags“mit Männern in glamourösen Frauenklamotten floppten in jüngster Zeit. Viele Siegerinnen und Sieger all dieser Shows sind längst vergessen.
So haben sich die Einschaltquoten in den vergangenen Jahren entwickelt: Die erste Staffel „Deutschland sucht den Superstar“(DSDS) 2002/2003 sahen im Schnitt noch über acht Millionen Zuschauer, das Finale fast 13 Millionen. Nach Hochs und Tiefs in den Folgejahren waren es dieses Jahr bei der 18. Staffel der RTLCastingshow durchschnittlich noch etwa drei Millionen Zuschauer.
Das Finale, in dem Thomas Gottschalk statt Dieter Bohlen als Chefjuror saß, sahen lediglich 2,7 Millionen – so wenige wie nie zuvor. 2020 waren es immerhin
Dennoch: In der Geschichte des Fernsehens knüpften die modernen Castingshows der vergangenen zwei Jahrzehnte an eine Tradition von Talentwettbewerben in Deutschland an. Schon in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren zeigten sowohl ARD und ZDF als auch das Fernsehen der DDR Shows, in denen Kandidaten ihr Talent unter Beweis stellten. Von 1972 bis 2017 gab es außerdem die vom Moderator Udo Werner ins Leben gerufene legendäre Kölner Talentprobe am Tanzbrunnen – eine als gnadenlos verschriene Open-AirVeranstaltung am Rhein.
Die Kritik an den TV-Castings in den letzten Jahren zielte keineswegs auf die gewissenhafte Talentsuche, sondern auf die Ausnutzung der Formate als sogenanntes performatives noch 4,2 Millionen gewesen. Bei „The Voice of Germany“ein ähnliches Bild: Während vor zehn Jahren die erste Staffel im Schnitt noch 4,2 Millionen verfolgten, waren es vergangenen Herbst nur 2,7 Millionen. „Germany’s Next Topmodel“hatte anfangs (2006) um die drei Millionen Zuseher, zeitweise – im Jahr 2009 – waren es fast vier Millionen und vergangenes Jahr dann noch 2,4 Millionen im Schnitt. In diesem Jahr ist der Marktanteil aus ProSieben-Sicht gut, die absoluten Zuschauerzahlen sind jedoch im Bereich wie im vorigen Jahr. (dpa)
Realitätsfernsehen. Damit ist Reality-TV gemeint, das ins echte Leben der Teilnehmer eingreift. Castingshows wurden so sehr oft zu einem Mix aus Soap, Comedy und konstruierten Dramen zurechtgeschnitten. Konflikte mit Jurymitgliedern oder Mit-Kandidaten wurden wichtiger als die Musik, das Modeln oder Sonstiges. Das Publikum wurde zum Voyeur und Zeuge moralischer Grenzverletzungen. Das passiert nach wie vor, jedoch mit weniger Zuspruch. Millionen scheinen es leid zu sein.
Parallel dazu scheint sich eine neue Lust auf Seriosität entwickelt zu haben. Gerade in Zeiten der Pandemie punkten moralischere Fernsehformate wie zum einen natürlich Nachrichten, Talkshows, Dokus, aber auch Satire wie die „heuteShow“und das neuerdings monothematisch und sehr politisch gehaltene „ZDF Magazin Royale“mit Jan Böhmermann.
Die Darmstädter Kommunikationswissenschaftlerin Döveling meint: „Die neue Ernsthaftigkeit ist gesellschaftlich angekommen. In der postmodernen TV-Landschaft, in der jeder seine Nische sucht, kommen auch Dokus Garten- und Kochsendungen gut an. Es sind Themen, die realistisch sind.“Zugleich seien es Sendungen mit hohem Identifikationspotenzial, denn jeder esse und koche, liebe Genuss oder träume vom Grünen. „Wir wollen nach wie vor mitfühlen und mitfiebern. Wir alle wollen und brauchen aber auch mehr Sicherheit und weniger Inszenierungswettbewerb.“