Comeback der Nachtzüge
Per Bahn statt mit dem Flieger quer durch Europa – Trendforscher sehen großes Potenzial
(dpa) - Seit mehr als einem Jahr werden Reisen storniert, Urlaube abgesagt, sogar kleinere Ausflüge gestrichen. Viele blicken mit Sehnsucht und Fernweh auf den Sommer, in der Hoffnung auf Normalität. Dabei ändert nicht nur Corona die Art und Weise, wie wir Urlaub machen – auch die Klimakrise rückt etwa umweltbewusstes Reisen immer stärker in den Fokus. Auch deswegen attestieren Trend- und Zukunftsforscher Nachtzügen in Europa großes Potenzial. Zwar fehle es noch an Infrastruktur und länderübergreifenden Verbindungen, es bestehe aber die Möglichkeit einer echten Renaissance, ergab eine Umfrage unter mehreren Forschern.
Womöglich ist der Trend bereits mit kleinen Schritten am Pfingstmontag gestartet. Dann wollten die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ihre coronabedingten Einschränkungen aufheben. „Es freut mich besonders, dass wir ab heute endlich wieder unsere Nightjets auf die Reise quer durch Europa schicken können“, teilte ÖBB-Chef Andreas Matthä mit. Am selben Abend sollte in Wien ein Nachtzug nach Amsterdam starten.
„Wir leben heute, gerade nach Corona, im Zeitalter der Comebacks“, sagt Matthias Horx, Gründer des Zukunftsinstituts, auch wenn er im Vergleich zu Kollegen noch vorsichtiger ist. Trendbeobachter Matthias Haas spricht davon, dass eine Renaissance aus verschiedenen Gründen zu erwarten sei. Eine Reise im Nachtzug, in der Langstrecke, biete Sicherheit bei gleichzeitiger Spannung – beispielsweise durch zufällige Begegnungen, sagte er. Eine Wiederentdeckung der Reise im ursprünglichen Sinne liefere die Bahn mit dem Nachtzug auf höchstem Niveau. Auch Eike Wenzel, Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ), bejaht die Zukunftsfähigkeit dieser Reisemöglichkeit.
Das Potenzial haben verschiedene Unternehmen und Start-ups erkannt. Von 2022 an soll eine neue Nachtzugverbindung die MoldauMetropole Prag mit Dresden, Berlin, Amsterdam und Brüssel verbinden. Derzeit wird für das Vorhaben nach Investoren gesucht. Einem Bericht der Nachrichtenagentur Belga zufolge werden 500 000 Euro gebraucht. Ebenfalls Anfang April wurde bekannt, dass zwei belgische Unternehmer einen sogenannten Moonlight Express mit Fahrten von Brüssel über Lüttich nach Berlin auf die Schiene bringen wollen.
Die Chancen für eine Renaissance sind laut den Wissenschaftlern und Beobachtern aber mit bestimmten Voraussetzungen verbunden. Trendforscher Peter Wippermann betont etwa, dass Ticketpreise mit denen von Billigfliegern mithalten müssten. „Dass wir keinen europäischen Bahnfahrplan haben, ist eine ziemliche Blamage und geht letztlich darauf zurück, dass Auto- und Flugverkehr – bis in gesetzliche Bestimmungen hinein – nach wie vor bevorzugt werden“, betont Wenzel und moniert, dass es nie eine europäische Strategie für ein Bahnnetz gegeben habe.
Horx gibt zu bedenken, dass man eine Reisekultur in einer hochindividualisierten Gesellschaft erst wieder erlernen müsse. Derzeit sieht er eher Nischenchancen. „Das Schienennetz in Europa hat eben doch eine Menge Verbiegungen und mangelnde Verbindungsstrecken“, so der Forscher. Ein Umbau der Schienennetze werde viele Jahre dauern. Wippermann spricht davon, dass die richtigen Voraussetzungen frühestens 2023 möglich seien.
Während Horx zudem betont, dass der Nachtzug nicht mit der Geschwindigkeit eines Fliegers mithalten kann, sagt Haas: „Menschen werden teilweise zu Überzeugungstäter und relativieren die Reisezeit bei einem entsprechenden Erlebnis.“
Aber auch er sieht noch Nachholbedarf. Es brauche etwa eine lückenlose Wi-Fi-Verbindung. „Über veganes Essen und alkoholfreien Wein im Speisewagen müssen wir nicht reden“, solche Aspekte seien im modernen Leben ein Faktor. Zudem müssten „viele, viele Fotomotive“angeboten werden, so der Beobachter. Denn eine Selbstdarstellung über soziale Medien sei „zweifelsohne“inklusive. „Diese Reiseform ist wie das Kreuzfahrtschiff, nur ohne Scham.“
Auch sonst spricht derzeit nichts gegen ein Comeback der Nachtzüge. Eine repräsentative YouGov-Umfrage
im Auftrag der Umweltorganisation Germanwatch etwa zeigte jüngst, dass in den betrachteten Ländern Deutschland, Polen, Frankreich, Spanien und in den Niederlanden im Schnitt mehr als die Hälfte der erwachsenen Bürgerinnen und Bürger bereit ist, bei einem „vernünftigen Preis“Flüge durch Zugreisen zu ersetzen. In Polen würden 37 Prozent der Befragten dafür auch Reisezeiten von mehr als sieben Stunden in Kauf nehmen. In den Niederlanden, Spanien und Frankreich sind es rund 25 Prozent, wobei Deutschland bei diesem Aspekt Schlusslicht mit 14 Prozent ist.
Derzeit hält vor allem die ÖBB die Nachtzugverbindungen am Leben. Sie bietet entsprechende Reisen unter anderem nach Italien, Deutschland, in die Schweiz, die Niederlande oder nach Osteuropa an. Die Züge werden teils zwar auch von der Deutschen Bahn betrieben. Doch ein eigenes Angebot hatte der bundeseigene Konzern mit Verweis auf die geringe Nachfrage bereits vor Jahren eingestellt. Wie im Dezember verkündet wurde, will er sich jedoch wieder stärker daran beteiligen.
Gemeinsam mit der ÖBB, der Schweizerischen Bundesbahn (SBB) sowie dem französischen Staatskonzern SNCF will die Deutsche Bahn in den kommenden Jahren die Nachtzugverbindungen in Europa wieder ausbauen. Schon Ende des Jahres soll es demnach möglich sein, per Nachtzug von Zürich über Köln nach Amsterdam zu fahren sowie von Wien über München nach Paris.