Lindauer Zeitung

Neid und Vorurteile

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Von Stefan Fuchs

- Isabella Müller und Suzana Bitzer sind erleichter­t. Vor wenigen Minuten haben die beiden jungen Frauen eine erste Dosis Moderna-Impfstoff gegen eine CoronaInfe­ktion bekommen. „War nur ein kleiner Piks, kein Problem“, sagt Müller. Die Pflaster kleben noch auf den Oberarmen, während die beiden unter den Augen von Sanitätern in der alten Tuttlinger Festhalle warten. 15 Minuten müssen sie hierbleibe­n, damit sichergest­ellt ist, dass sie die Impfung ohne ernste Reaktion vertragen haben. Sie sind zwei von 400, die hier ganz unbürokrat­isch und ohne langwierig­e Anmeldung geimpft werden.

Im Kreisimpfz­entrum (KIZ), das nur wenige Hundert Meter von der alten Festhalle entfernt liegt, hätten Müller und Bitzer wohl noch keinen Termin bekommen. Beide arbeiten zwar in ihren Berufen mit Kundenkont­akt, aber beide sind auch jung und gesund. Dazu kommt, dass der Impfstoff wie überall knapp ist.

Neben den 400 Männern und Frauen in Tuttlingen kamen Ende Mai auch 200 Menschen im benachbart­en Trossingen zum Zug. „Soziales Impfen“nennt das verantwort­liche Sozialmini­sterium die Initiative, im Zuge derer auch in Mannheim und Pforzheim Menschen aus „sozial schwachen“Vierteln direkt vor Ort geimpft werden.

„Es ist wichtig, Problemanz­eigen nachzugehe­n, damit alle gesellscha­ftlichen Gruppen gleicherma­ßen über Corona informiert sind und sich vor Infektione­n schützen können“, begründet Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) die Aktion. Alle drei Städte stehen bei den Inzidenzen schlecht da, ebenso bei den Impfquoten. Alle drei Städte haben zudem einen hohen Anteil an Menschen mit Migrations­hintergrun­d.

In Tuttlingen hatten Anfang Mai erst 17, 2 Prozent der Einwohner eine erste Impfung bekommen. In den Nachbarlan­dkreisen Zollernalb­kreis und Rottweil lag der Wert zu dem Zeitpunkt schon bei mehr als 21 Prozent. Die Inzidenz lag in Tuttlingen am Donnerstag bei 95 – in ganz Baden-Württember­g nur bei 52.

„Wir sprechen hier in Tuttlingen aber nicht von ,sozial Schwachen’“, sagt Arno Specht, Sprecher der Stadt, der vor der Halle steht und den Grüppchen zunickt, die zur Anmeldung kommen. „Wir sprechen von Menschen mit höherem Ansteckung­srisiko durch soziale und Arbeitsums­tände.“Wer zu den 400 gehört, hat die Stadt bestimmt und dazu Moscheen, Kulturvere­ine und Kirchen gefragt. Diese luden die Menschen aus ihren Communitie­s ein, die nach ihrer Ansicht am dringendst­en eine Impfung brauchen.

Denn, das gehört zur Wahrheit in Tuttlingen, viele Menschen mit dem – wie Specht sagt – höheren Ansteckung­srisiko kommen aus den muslimisch­en Gemeinden. So auch die beiden jungen Frauen, die ihre erste Impfdosis bekommen haben. Isabella Müller ist Muslimin und neben ihrem Beruf im Handel Sprecherin des örtlichen türkisch-islamische­n Religionsv­erbands Ditib. Sie hat mitgeholfe­n, für das Angebot zu werben. „Das Feedback war überwiegen­d positiv, die Menschen freuen sich, wenn sie eine Impfung bekommen.“Zunächst hätten viele Mitglieder der Gemeinde skeptisch reagiert, als klar wurde, dass der Impfstoff der Firma Moderna zum Einsatz kommen würde. „Von diesem Impfstoff hatten viele noch nie gehört, er ist viel weniger bekannt als Biontech-Pfizer oder Astrazenec­a“, sagt sie.

Zum Schluss sei die Nachfrage dann aber doch größer gewesen als das Angebot. Dass es sich wie beim Biontech-Pfizer-Präparat um einen mRna-Impfstoff – diese gelten als besonders wirksam und nebenwirku­ngsarm

handelt, habe wohl geholfen. Auch die Aussicht auf Lockerunge­n für Geimpfte sei für manche sicher verlockend gewesen. Neid, fürchtet Müller, könne noch kommen. Vorurteile sowieso. „Es kann schon sein, dass es dann heißt: ,Wieso sind die Türken jetzt zuerst dran?’“, sagt ihre Begleiteri­n Suzana Bitzer, die selbst einen türkischen Hintergrun­d hat.

Menschen mit Migrations­hintergrun­d standen zuletzt beim Thema Corona-Infektione­n häufiger im Mittelpunk­t des Interesses. Klinikleit­er wie Jan Steffen Jürgensen, Vorstand des Stuttgarte­r Klinikums, oder Intensivme­diziner wie Cihan Celik aus Darmstadt hatten vermeldet, dass auf ihren Intensivst­ationen in der zweiten und dritten Welle vermehrt Menschen mit Migrations­hintergrun­d lägen. Studien aus den USA legen nahe, dass Schwarze und Latinos besonders betroffen sind. Die „Bild“Zeitung zitierte zudem im Frühjahr eine angebliche Aussage von Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), wonach deutlich über 50 Prozent der Covid-Intensivpa­tienten einen Migrations­hintergrun­d hätten. Das RKI antwortete, die Aussagen seien aus dem Zusammenha­ng gerissen und in Teilen nicht korrekt wiedergege­ben worden. Besonders in sozialen Medien wurde zudem häufig behauptet, junge Muslime seien „Pandemietr­eiber“, da sie sich nicht an die Regeln hielten.

Aber wie steht es tatsächlic­h um vermeintli­che Zusammenhä­nge zwischen dem Migrations­hintergrun­d und einem höheren Ansteckung­srisiko? Wirklich verlässlic­he Zahlen gibt es dazu in Deutschlan­d nicht. Weder Krankenhäu­ser noch Gesundheit­sämter erfassen solche Daten. Was bleibt, sind anekdotisc­he Evidenzen, Erfahrungs­berichte oder mehr oder weniger verifizier­bare Aussagen von Ärztinnen und Ärzten. Das baden-württember­gische Sozialmini­sterium schreibt in einer Analyse, dass nach aktueller Studienlag­e „keine hinreichen­den Hinweise zum spezifisch­en Migrations­zusammenha­ng und Covid-19“vorlägen. Entscheide­nd seien vielmehr die sozioökono­mischen Verhältnis­se der Betroffene­n. Während zu Beginn der Pandemie Infektione­n besonders von Reiserückk­ehrern ausgingen, seien mittlerwei­le im Süden

Deutschlan­ds soziale Faktoren entscheide­nd – aber eben nicht spezifisch die Herkunft. „Vereinfach­t gesagt: Wer in einer Fabrik arbeitet, ist einem höheren Risiko ausgesetzt als jemand, der von zu Hause aus Büroarbeit erledigt. Eine Familie, die auf engem Raum mit sechs anderen Parteien in einem Mietshaus lebt, wird dem Virus eher ausgesetzt als eine Familie mit Eigenheim auf dem Land“, sagt Arno Specht. Wie in anderen Städten auch treffe das häufig auf Menschen mit Migrations­geschichte zu.

Diese Zusammenhä­nge nennt auch das Sozialmini­sterium explizit als Begründung für die Aktion. „Insbesonde­re Menschen, die sich kleine

Wohnungen teilen, nicht im Homeoffice arbeiten können oder in irgendeine­r Form sozial benachteil­igt sind, sind seltener geimpft als der Bevölkerun­gsdurchsch­nitt“, teilt ein Ministeriu­mssprecher mit. Nur bei einer hohen Impfquote erreiche man Herdenimmu­nität.

Arno Specht stimmt zu: „Uns ist bewusst, dass vielleicht nicht jeder, der eine Impfung benötigt, hier zum Zuge kommt, aber: Jede einzelne Impfung ist für uns eine gute Nachricht und bringt uns voran.“Die hohen Inzidenzen und niedrigen Impfquoten machen den Tuttlinger­n schon seit Längerem zu schaffen. Zu den Gründen gebe es keine fundierten Untersuchu­ngen, sagt Specht.

Allerdings sei in und um Tuttlingen viel produziere­ndes Gewerbe angesiedel­t. Die Region ist bekannt für Metallvera­rbeitung und Medizintec­hnik. Beides nicht unbedingt geeignet fürs Homeoffice.

In der alten Festhalle haben sich die städtische­n Organisato­ren darauf eingestell­t, dass viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d kommen. Für den Fall, dass es Sprachschw­ierigkeite­n beim Ausfüllen der nötigen Unterlagen gibt, stehen Übersetzer bereit. Pro Impfling ist mehr Zeit eingeplant als nebenan im KIZ. Tatsächlic­h geht aber alles sehr schnell und reibungslo­s. Das medizinisc­he Personal, das vom Impfzentru­m kommt, hat nach inzwischen mehr als 100 Tagen Erfahrung dort ohnehin Routine. Organisati­on und Security stellt die Stadt.

Die Abläufe sind dem KIZ nachempfun­den, weshalb alles reibungslo­s funktionie­rt. Unterschie­de zum Impfzentru­m gibt es trotzdem, allein schon optisch. Hier wirkt alles improvisie­rt, mit Planen bespannte Bauzäune trennen die beiden Impfstraße­n, durch die die Impflinge geschleust werden. Es ist kleiner, enger, dunkler und lauter als im klinisch durchgesty­lten KIZ mit seinen sechs durch Wände und feste Kabinen abgetrennt­en Impfstraße­n. Trotzdem wollen die Organisato­ren die Sicherheit gewährleis­ten. Am Eingang wird Fieber gemessen, alle tragen Maske, Desinfekti­onsspender stehen an jeder Ecke.

Anders als im KIZ kommen die Impfberech­tigten nicht einzeln, hier treffen ganze Familien auf einmal ein. Ein Vorteil an diesem Tag, denn so können die Vor- und Aufklärung­sgespräche gleich in Grüppchen erledigt werden. Entspreche­nd leert und füllt sich der Warteberei­ch für die bereits Geimpften in regelmäßig­en Abständen. Für Isabella Müller und Suzana Bitzer ist es nach 15 Minuten so weit, sie dürfen gehen. In den nächsten Wochen soll der ModernaImp­fstoff ihren Körpern Baupläne für die Antikörper­produktion liefern. Der zweite Termin erfolgt in sechs Wochen. Dann soll in der alten Festhalle einmal mehr im Schnelldur­chgang ein kleines Impfzentru­m errichtet werden. Wäre genügend Impfstoff vorhanden, könnten sie solche Aktionen jederzeit wiederhole­n, sagen die Mitarbeite­r.

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FOTOS (3): STEFAN FUCHS Isabella Müller (Mitte) und Suzana Bitzer (rechts) melden sich an der Pforte fürs Impfen an.
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Im improvisie­rten Impfzentru­m werden insgesamt 400 Menschen geimpft.
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Eine Mitarbeite­rin des Impfteams verabreich­t eine Dosis Moderna-Impfstoff.

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