Eine Schallmauer fällt vor 20 Jahren
Roman Sebrle übertraf beim 27. Mehrkampf-Meeting in Götzis erstmals die 9000-Punkte-Marke
- Nach dem ersten Tag der 27. Auflage des traditionsreichen Mehrkampf-Meetings von Götzis – es war der 26. Mai 2001 – lag der tschechische Zehnkämpfer Roman Sebrle mit sagenhaften 4675 Punkten in Führung und war drauf und dran, für den ersten 9000-Punkte-Wettkampf der Leichtathletikgeschichte zu sorgen. Der kraftstrotzende Sebrle strebte der magischen Marke entgegen, vielleicht auch zum Leidwesen von Sebrles Landsmann und Trainingspartner Tomas Dvorak, der im Vorfeld nicht nur einmal dafür sorgte, dass die 9000-Zähler-Schallmauer eigentlich gar nicht so unüberwindbar schien. Denn der damalige Noch-Weltrekordhalter Dvorak kam bei seiner Höchstleistung 1999 in Prag auf 8994 Punkte – und vergab die 9000 bei seinem kurzen Abstoppen kurz vor der Ziellinie des abschließenden 1500-Meter-Laufs. Weil Dvorak der Weltrekord genug Lohn seiner zweitägigen Schinderei gewesen war.
Gut einen Monat vor Sebrles phänomenalem Wettkampf sprach der damalige Meetingdirektor Konrad Lerch von einer denkwürdigen Veranstaltung, meinte damit aber noch die 26. Auflage des Stelldicheins der Mehrkampfelite ein Jahr zuvor. Denn noch nie zuvor hatten sechs Athleten bei einem Event mehr als 8500 Zähler erreicht – wie eben im Jahr 2000 geschehen. Lerch mutmaßte, dass das 27. Meeting das 26. gar übertreffen sollte, und ließ vorsichtshalber den Weltrekord versichern. „Von Roman Sebrle bin ich schon seit vielen Jahren ein Fan, er wurde unwahrscheinlich gut aufgebaut und hat die gleiche lineare Entwicklung hinter sich. Nach seinem letztjährigen zweiten Platz hinter Dvorak habe ich mich im Ziel zu ihm hinuntergebeugt und ihm gesagt, eines Tages bist du die Nummer 1“, verriet der Bregenzer Lerch damals der „Schwäbischen Zeitung“und traute ihm für das 27.
Meeting im österreichischen Götzis viel zu. „Sebrle ist heiß wie nie, er steht bisher komplett im Schatten seines Landsmanns. Die Zeitungen in Prag sind voll von Dvorak.“
Am ersten Tag des Zehnkampfs ließ Sebrle in den Disziplinen 100 Meter, Weit- und Hochsprung das Feld hinter sich und stellte zwei persönliche Bestleistungen auf. „Ich habe an die 9000 noch nicht gedacht, wobei die Betonung auf dem Wort noch liegt“, meinte tags zuvor ein entspannt wirkender Sebrle. Nach dem ersten Tag hatte Sebrle dank seinen 10,64 Sekunden über 100 Meter, 8,11 Meter im Weitsprung, 15,33 Meter mit der Kugel, 2,12 Meter im Hochsprung und 47,79 Sekunden über die Stadionrunde 4675 Punkte gesammelt, seine
Bestleistung lag bis dorthin bei 4536 Zählern. An seinem besten zweiten Tag waren es bis zu jenem Mai im Jahr 2001 lediglich 4181 Punkte, Sebrle musste also auch in den zweiten fünf Disziplinen was draufpacken, dass Götzis seinen dritten Weltrekord der Geschichte nach 1980 und 1982 erleben konnte.
Schon am Morgen des 27. Mai lag eine unglaubliche Spannung über dem Rund des Möslestadions. Der Triumphator von Tag eins wurde von Tausenden Augenpaaren auf Schritt und Tritt beobachtet, die Spannung steigerte sich bis zum 1500-Meter-Lauf ins Unermessliche, fiel nur nach dem Stabhochsprung etwas ab. Dann der Startschuss. Die Zeit, die Sebrle laufen musste, wurde auf die Hundertstel
Roman Sebrle
errechnet (4:25,93 Minuten). Die Menge, geschätzte 5000 Leichtathletikfans, tobte und feuerte den Publikumsliebling an. Als der Tscheche über die Ziellinie rannte, blieb die Zeit bei 4:21,98 Minuten stehen und Athlet wie Zuschauer wussten: die 9000 waren gefallen. „Diese Leistung wird für mich bis in den Tod hinein das Wertvollste sein“, so Sebrle.
Neben zahlreichen Lobeshymnen kassierte der Tscheche nach den 13,92 Sekunden über die Hürden, 47,92 Meter mit dem Diskus, 4,80 Meter im Stabhochspung, 70,16 Meter mit dem Speer und der Leistung bei den 1500 Metern am Ende des zweiten Tages 30 000 Euro für den Weltrekord, 12 000 Euro für den ersten seiner fünf Götzis-Siege sowie 15 000 Euro für die 8,11 Meter im Weitsprung (bis heute Stadionrekord). Er selbst hatte das Unternehmen Weltrekord dabei laut eigener Aussage schon abgehakt, doch der Speerwurf brachte den Tschechen ins Spiel zurück. Für ihn blieb es nicht der einzige Erfolg. Nach seinem Glanzstück wurde Sebrle noch Olympiasieger, Welt- und Europameister.
„Es hätte New York, London oder sonst wo sein können, aber es war Götzis“, war der damalige Meetingdirektor Lerch wenige Minuten nach dem Traumlauf noch hin und weg – wie auch Tausende Menschen, die Zeuge dieses Ereignisses geworden waren. Nach Sebrle dauerte es elf Jahre, ehe der US-Amerikaner Ashton Eaton den Rekord zweimal um ein paar Pünktchen steigerte (2012 auf 9039, 2015 auf 9045). Aktuell ist Kevin Mayer das Maß aller Dinge in der Zehnkampf-Welt, der Franzose hob 2018 den Weltrekord im Vergleich zu Sebrle um exakt 100 Punkte auf 9126 an.
Zu seinem Jubiläum im Jahr 2021 ist der heute 46-jährige Sebrle freilich im österreichischen Götzis erwartet worden, wohingegen Mayer anders plante und auf eine Teilnahme am 46. Mehrkampf-Meeting (29./ 30. Mai) verzichtete.
„Diese Leistung wird für mich bis in den
Tod hinein das Wertvollste sein.“