Tuchel erklimmt den Trainer-Olymp
Mit dem Champions-League-Sieg liefert der Ex-VfBler sein persönliches Meisterstück
(SID) - Im Moment des allumfassenden Glücksrausches herzte Thomas Tuchel seine Töchter Kim und Emma, er zwang seine Hüften sogar zu einem kleinen Tänzchen. Seine Ehefrau Sissi sprang ihm euphorisch in die Arme. Während seine Champions-League-Sieger um „Goldfüßchen“Kai Havertz den Henkelpott stolz ihren Fans entgegen-stemmten, zog sich der Star-Coach des FC Chelsea dankbar in den Kreis seiner Liebsten zurück.
„Ich laufe wie durch einen Film. Meine Familie, meine Kinder und meine Eltern sind hier“, schwärmte Tuchel, nachdem er seinen Freund Pep Guardiola und Manchester City im Finale von Porto mit 1:0 (1:0) bezwungen hatte: „Das ist das Schönste. Wenn ich drüber nachdenke, fange ich an zu weinen.“Der 47-Jährige ist im Olymp der weltbesten FußballTrainer angekommen.
Als Allerletzter, um 22.43 Uhr Ortszeit, wuchtete der Ex-Kicker des SSV Ulm 1846 (1994 bis 1998) und ExJugendtrainer des VfB Stuttgart (2000 bis 2006) den Cup dann doch in die Luft. Den Sieg widmete er der Familie. „Meine Eltern, die mich auf jeden Platz gefahren haben, meine Frau, die in der Landesliga Süd bei der zweiten Mannschaft vom FC Augsburg hinter mir stand und dachte: ,Mit wem bin ich denn da zusammen?’ Meine Oma, die zu Hause schaut mit über 90: Für die ist das jetzt, ehrlich gesagt.“
Das Feierbiest in sich ließ Tuchel erst später frei. Mit Champagner im Anschlag stürmte er in die Kabine und spritzte seine Spieler nass. Sogar einen Schuh zog er vom Fuß und gönnte sich einen kräftigen Schluck daraus. Der Druckabfall war offensichtlich: Im Vorjahr hatte Tuchel mit Paris St. Germain das Finale noch gegen Bayern München verloren.
Bei Chelsea kam er im Januar in ein schwieriges Umfeld. Abgeschlagen lag der Club im Mittelfeld der Premier League, die Neuzugänge Timo Werner und Havertz zündeten nicht wirklich. Davon spricht nach dem 29. Mai 2021 in London niemand mehr. Plötzlich ist Chelsea das Maß aller Dinge in Europa, Tuchel der Architekt des Erfolgs – und Havertz ein Held. „Für mich geht ein Kindheitstraum in Erfüllung“, sagte der frühere Leverkusener, der in der 43. Minute City-Torwart Ederson umkurvt und zum Siegtor eingeschoben hatte: „Seit ich fünf oder sechs bin, erinnere ich mich an jedes ChampionsLeague-Finale.“Der 21 Jahre alte Offensivkünstler
mit dem magischen Fuß sprach von einem „unfassbaren Gefühl“. In Anbetracht seiner Corona-Infektion, Verletzungsproblemen und der Bürde von 80 Millionen Euro
Pep Guardiola küsste seine Medaille für den Zweitplatzierten, als er nachdenklich am ChampionsLeague-Pokal vorbeischlenderte. Und doch schien der Star-Trainer von Manchester City ganz mit sich im Reinen zu sein. Kritik an seiner Aufstellung fegte er selbstbewusst beiseite und flüchtete sich in positive Gedanken. „Es ist eine außergewöhnliche Saison für uns. Heute sind wir traurig, aber mit der Zeit werden wir analysieren, wie außergewöhnlich das war“, sagte der Katalane. Der von vielen Experten als bester Trainer der Welt verehrte Guardiola hat Europas Fußball-Thron seit zehn Jahren nicht mehr besteigen dürfen. 2009 und 2011 siegte er noch mit dem FC Barcelona. Bei Bayern München und City sammelte er fleißig nationale Titel, in oberster Riege schielt aber jeder Trainer auf den Pokal mit den großen Ohren. Nach dem bitteren
Ablöse war die Erleichterung greifbar. Was dieser Druck mit ihm anstelle, wurde er gefragt. Er erwiderte spitzbübisch: „Das kümmert mich gerade einen Scheiß. Wir haben die
Abend erntete Guardiola folglich auch Kritik. „Der verrückte Dirigent sieht, wie der Champions-LeagueTraum zerfällt“, schrieb der „Guardian“. „The Independent“titelte: „Ein umwerfender Thomas Tuchel lässt Guardiola mit sämtlichen Fragen zurück.“Jene Fragen drehten sich vor allem um Citys Aufstellung. Mit Raheem Sterling, Kevin De Bruyne, Riyad Mahrez, Phil Foden und Bernardo Silva brachte Guardiola reichlich Offensiv-Power. Selbst ChelseaCoach Tuchel war überrascht: „Wir haben erwartet, dass Fernandinho spielt. Er hat eine sehr offensive Aufstellung gewählt.“Guardiolas Überfall-Idee zündete jedoch nicht.
Trotz aller Erklärungsversuche steht am Ende die Niederlage. Und die Kritik. Schon beim FC Bayern (2013 bis 2016) musste sich Guardiola Ähnliches anhören. (SID) verdammte Champions League gewonnen. Wir feiern jetzt einfach.“Für die deftige englische Wortwahl mit einem doppelten „F***“entschuldigte er sich später bei Twitter, für die Leistung gibt es nur Anerkennung. Antonio Rüdiger und Abräumer N'Golo Kante zogen die Mauer hoch, sodass dem Guardiola-Team kaum Kreatives einfiel. „Wir haben es gestern gefühlt, wir haben es vorgestern gefühlt. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind der Stein im Schuh von City“, sagte Tuchel.
Was nun? Wer glaubte, dass Thomas Tuchel lange im Party-Modus verweilen würde, lag falsch. „Natürlich ist jetzt die Zeit, ein paar Tage lang zu feiern, es zu genießen und zu verarbeiten. Aber sonst macht es überraschenderweise nicht so viel mit dir. Und ich glaube, das ist gut. Denn ich will mich nicht ausruhen“, sagte Tuchel. Er wolle „den nächsten Erfolg, den nächsten Titel“. Ein Thema wird sicher Tuchels Vertrag werden, der möglicherweise nun verlängert wird. „Ich bin nicht hundertprozentig sicher, aber vielleicht habe ich durch diesen Sieg schon einen neuen. Das könnte sein“, sagte Tuchel lachend: „Das müssen wir erst checken.“Bislang lief Tuchels Vertrag bis Sommer 2022, aber nun stehen bei Chelsea alle Zeichen auf Ära.