Abschluss ohne Party
Eine große Feier fällt für Abiturienten und Abschlussschüler aus – Die Corona-Pandemie trübt für viele von ihnen einen bedeutenden Moment im Leben
Von Katharina Höcker
- Routiniert schaltet Jan Schmieder den Computer ein. Seine Abiturlektüre türmt sich neben ihm auf: Dürrenmatt, Büchner, Goethe. Bunte Klebezettel markieren die wichtigsten Stellen. Besprochen hat Jan diese Bücher mit seinen Lehrern nur auf Distanz. Seit Beginn der Corona-Pandemie gehört Online-Unterricht zu seinem Alltag. Unter diesen widrigen Umständen hat der 19-Jährige in den vergangenen Wochen für seine Abiturprüfungen gelernt. Die Zeit rund um sein Abitur hat er sich dabei ganz anders vorgestellt.
Jan und seine Mitschülerin Jessica Michel sind Schülersprecher am Immanuel-Kant-Gymnasium (IKG) in Tuttlingen. Die beiden erinnern sich an den Beginn der Pandemie. Damals war ihnen noch nicht bewusst, dass sie diese Situation bis zum Abitur begleiten würde. „Wirklich bemerkbar gemacht hat sich Corona, als letztes Jahr unsere Abifahrt abgesagt wurde“, erzählt Jan. „Da haben wir noch gedacht, dass wir wenigstens den Rest wie Abiball und Mottowoche hätten. Doch das ist dann auch nichts geworden.“
„Im Dezember hatten wir noch Hoffnungen auf einen Abiball“, ergänzt Jessica. Mittlerweile ist klar, dass der Ball ausfallen muss. Für die Zeugnisübergabe ist eine Zwischenlösung geplant. Die Veranstaltung wird in die Stadthalle verlegt, wo mehr Platz zur Verfügung steht. Der reicht aufgrund der geltenden Abstandsregeln dennoch nicht vollständig aus, deshalb darf jeder Schüler voraussichtlich nur eine einzige Begleitperson mit hineinnehmen. „Das ist natürlich schade, dann sagen zu müssen, dass nur einer mit rein darf und der andere draußen warten muss“, sagt Jessica.
Für die anderen Familienmitglieder vor der Halle oder auf dem heimischen Sofa wird es einen Livestream geben, also eine Übertragung via Internet, bei dem man die Veranstaltung verfolgen kann – eine Alternative, die sich bereits im vergangenen Jahr bewährt hat. „Es war sicherlich anders, aber trotzdem festlich“, sagt Schulleiterin Patricia PulferJauch. Die Schüler kamen einzeln auf die Bühne und bekamen ihr Zeugnis überreicht. Danach auf den Abschluss anstoßen wird voraussichtlich nur im kleinen Kreis möglich sein. „Einen richtigen Sektempfang dürfen wir natürlich nicht machen“, sagt Jessica. „Es wird also vermutlich so wie letztes Jahr. Da haben sich einige den Sekt in einer Kühlbox selbst mitgebracht.“
Auch wenn sich Schüler und Lehrkräfte alle Mühe geben, der Zeugnisübergabe einen feierlichen Charakter zu geben, bleibt ein wenig Trauer. „Man hat sich jetzt acht Jahre lang regelmäßig gesehen – und dann winkt man einfach und geht“, sagt Jessica. Jan erinnert sich noch an den Abschluss seiner älteren Schwester.
Sie hat vor einigen Jahren Abitur gemacht – mit Party, feierlicher Zeugnisübergabe und Abistreich. Im Gegensatz dazu kommt ihm der eigene Abschluss seltsam vor. „Da geht man zwölf Jahre zur Schule und dann bekommt man ein Stück Papier und darf gehen. Es fühlt sich auch gerade nicht so an, also würden wir Abitur machen. Es fühlt sich an, als würden wir irgendein Schuljahr beenden.“Und auch IKG-Schulleiterin PulferJauch hat Verständnis für ihre enttäuschten Schüler: „Feiern hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Es stiftet Identität und Gemeinschaft.“
Dem stimmt auch Simone Kauderer zu. Sie ist Schulleiterin an der Hermann-Hesse-Realschule. „Der Abschluss ist ein sehr wichtiges Ereignis. Die meisten Erwachsenen erinnern sich immer noch sehr genau an ihren eigenen.“Gemeinsam mit Eltern und Schülern wurde an der Hermann-Hesse-Realschule ein kleiner Abschluss in der Aula geplant. So könne man flexibel auf die Gegebenheiten reagieren. Damit die nötigen Abstände eingehalten werden können, feiert jede Klasse an einem Abend ein eigenes Fest. Ein Nachteil, von dem Hermann-Hesse-Realschüler Ron Rettenmaier berichtet: „Ich habe viele gute Freunde in der Parallelklasse, die sehe ich so leider gar nicht. Das ist nicht so cool.“Der 16Jährige freut sich aber, dass die Schüler viel mitbestimmen und planen dürfen.
„Es wird einen offiziellen Teil mit Zeugnisvergabe und Reden der Schulleitung und der Klassenlehrer geben. Der zweite Teil wird individuell von jeder Klasse gestaltet. Außerdem wird die Aula in Zusammenarbeit mit den Schülern festlich dekoriert“, berichtet Lehrerin Stefanie Schleicher. Auch für sie und ihre Kollegen waren die vergangenen Monate nicht einfach. Einige organisatorische Details sind noch unklar, etwa wie viele Begleitpersonen die Schüler an diesen Abenden mitbringen dürfen. Eines steht für Schleicher jedoch fest: „Wir versuchen aus der Situation das Bestmögliche zu machen und den Schülern einen würdigen Abschluss zu ermöglichen.“
Eine weitere Tradition an der Hermann-Hesse-Realschule soll trotz Corona stattfinden: Die Mottowoche, bei der sich die Schüler jeden Tag zu einem bestimmten Thema verkleiden. Die Themen, die die Schüler selbst bestimmen, reichen von Schlafanzug bis Geschlechtertausch.
„Darauf freue ich mich schon“, sagt Schülerin Marlene Wehinger. Die 16-Jährige macht gerade ihren Realschulabschluss. Ihre mündlichen Prüfungen hat sie schon hinter sich, die schriftlichen Tests stehen noch aus. „Ich habe schon darauf geachtet, nicht zu viele Menschen zu treffen, damit ich die Prüfung auf jeden Fall schreiben kann“, sagt die Schülerin.
An Bayerns Gymnasien legen rund 35 000 Schüler ihre Abiturprüfungen ab, in Baden-Württemberg sind es 16 400 Schüler. Während der Prüfung gilt Folgendes: Die Schüler müssen einen Mund-Nasen-Schutz tragen, vor der Prüfung ihre Hände desinfizieren und ihre Tische müssen mindestens anderthalb Meter auseinanderstehen. Außerdem soll vor der Prüfung ein Selbsttest durchgeführt werden – eine Pflicht besteht aber nicht. Die Umsetzung dieser Regeln habe bisher sehr gut geklappt, sagte ein Sprecher des Kultusministeriums Baden-Württemberg: „Die Schulen nehmen die Maßnahmen zum Hygiene- und Gesundheitsschutz sehr ernst und setzen diese auch entsprechend sorgfältig um. Uns haben bisher keine Rückmeldungen bezüglich größerer Probleme bei der Umsetzung der Hygienemaßnahmen erreicht.“
Sowohl am Immanuel-KantGymnasium als auch an der Hermann-Hesse-Realschule wurden die Schüler mit ausreichend Selbsttests ausgestattet, sodass sie sich am Vorabend der Prüfungen testen konnten. „Wenn der Test positiv gewesen wäre, dann hätte man die Prüfung im Sommer nachschreiben müssen“, erklärt Jan. „Da denkt man beim Test schon die ganze Zeit: Bitte nicht.“
Am Immanuel-Kant-Gymnasium sind die schriftlichen Prüfungen bereits vorbei. „Ich fand, dass es machbar war“, sagt Jan. „Aber Mathe war gnadenlos, das hab ich schon von einigen gehört.“Grundsätzlich haben sich die Schüler aber gut vorbereitet gefühlt. „Die Lehrer haben ihr Bestes gegeben. Es gab einige Pädagogen die davor kaum etwas mit Technik anfangen konnten und sich schnell eingearbeitet haben“, erzählt Jessica. „Manche haben aber auch viel schlechtere mündliche Noten gegeben, obwohl es weniger Chancen gab, sich einzubringen. Das sind aber Einzelfälle“, ergänzt Jan. Der Unterricht lief über die VideokonferenzPlattform Teams. Hier gibt es eine „Melden“-Funktion. Wenn ein Schüler die Antwort weiß, dann klickt er auf das Symbol und ein kleines Hand-Emoji erscheint auf dem Bildschirm. „Das hat schon mehr Überwindung gekostet, sich zu melden“, erzählt Jessica. Warum, kann sich die Schülerin selbst nicht erklären.
Dieses Phänomen kennt auch Claudia Steinhoff. Als Fachbereichsleitung der Schulpsychologischen Beratungsstelle Donaueschingen berät sie Schüler, Lehrkräfte und Eltern zu den verschiedensten Themen: Von Lese-Rechtschreib-Schwäche, über Mobbing bis hin zur Frage, wie Schule gestaltet werden kann. Ein zentrales Thema für die Schulpsychologen: Die Corona-Pandemie und ihre Folgen für den Schulalltag.
„Wir hören öfters von Schülern, die regelrecht abtauchen. Sie schalten zwar morgens den Computer an, sind dann aber trotzdem kaum zu erreichen“, berichtet Steinhoff. Viele belaste es auch, komplett alleine lernen zu müssen und dabei motiviert zu bleiben. „Und auch das Soziale ist eingeschränkt. Freunde treffen, die erste große Liebe – das alles fehlt im Moment. Das ist für viele Schüler eine große Belastung“, fasst Steinhoff zusammen. Sie berichtet außerdem von vermehrten Anträgen auf Psychotherapie und von Cybermobbing.
Und auch die eingeschränkten Möglichkeiten, den Schulabschluss zu feiern, würden die Schüler beschäftigen. „Abschlussrituale sind wichtig, weil dadurch Lebensabschnitte beendet werden“, betont Steinhoff. „Ein Abschlussball ist auch eine Art Einführung in die Gesellschaft.“Lehrern und Eltern rät sie daher, den Schülern viel Wertschätzung entgegenzubringen. „Jeder Schüler und jede Schülerin kann unheimlich stolz auf sich sein, diese Situation gemeistert zu haben“, sagt Steinhoff.
Ihren Start ins Berufsleben haben die Schüler trotz des ungewöhnlichen letzten Schuljahrs bereits geplant: Jessica beginnt im Oktober ein Duales Studium für Messe-, Kongressund Eventmanagement. Wie viel Praxis sie im Studium haben wird, kann die Schülerin noch nicht abschätzen.
Für Marlene und Ron geht es auf der Schulbank weiter. Beide möchten nach dem Realschulabschluss ihr Abitur machen. Jan wollte nach dem Abitur reisen, es sollte unter anderem nach Island gehen. Dort darf man aber nur geimpft einreisen. Jetzt hat er seine Pläne geändert: Statt reisen und arbeiten wird er jetzt nur Letzteres machen. Fürs Studium soll es dann ebenfalls ins Ausland gehen, Finnland ist sein Ziel. Bis dahin, so hofft er, ist wieder etwas Normalität eingekehrt.
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