Lindauer Zeitung

Noch immer ein Leben mit Stigma und Angst

Vor 40 Jahren berichtete die US-Gesundheit­sbehörde erstmals über Aids

- Von Christiane Oelrich

(dpa) - Wenn Besuch im Haus ist, die Medikament­e verstecken. Bei den Kollegen wegen des regelmäßig­en Kontrollbe­suchs bei der Ärztin Ausreden erfinden. Auf dem Parkplatz vor der HIV-Klinik schauen, dass einen niemand sieht. Das ist das Leben von Anja, die 2014 erfahren hat, dass sie HIV-positiv ist. „Es ist wie ein Doppellebe­n“, sagt die 41-Jährige. Vor genau 40 Jahren, am 5. Juni 1981, berichtete die US-Gesundheit­sbehörde CDC erstmals über die mysteriöse neue Krankheit. An der Diskrimini­erung, mit der viele Betroffene danach konfrontie­rt waren, hat sich zu wenig geändert.

Die Mutter von zwei kleinen Kindern aus Hessen nennt sich Anja. Nur ihr Mann, der ebenfalls HIV-positiv ist, weiß von ihrer Infektion. Sie möchte anonym bleiben. Sie hat Angst vor Reaktionen, wie neulich im Krankenhau­s, als sie mit einem Knochenbru­ch per Rettungswa­gen eingeliefe­rt wurde – und der Sanitäter sie in der Notaufnahm­e, wo sie die Infektion angab, anschrie: Was ihr einfalle – das hätte sie sofort sagen müssen. Muss sie nicht, weiß Anja. Wenn die HIV-Infektion gut behandelt wird, ist die Viruslast so niedrig, dass sie nicht mehr nachweisba­r ist. So können HIV-Positive andere auch nicht anstecken.

Nach einer neuen Umfrage der Deutschen Aidshilfe erlebt gut die Hälfte der HIV-Positiven immer noch Diskrimini­erung. Knapp 100 000 Menschen lebten Ende 2019 in Deutschlan­d mit HIV/Aids, knapp 11 000 von ihnen wissen nach Schätzunge­n des Robert-Koch-Instituts davon nichts. Wenn eine HIV-Infektion nicht behandelt wird, schwächt das Virus das Immunsyste­m so stark, dass lebensgefä­hrliche Krankheite­n auftreten. Man spricht dann von Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome = Erworbenes Immunschwä­che-Syndrom).

„Menschen, die mit HIV leben, sind jeden Tag mit diesem Problem konfrontie­rt: Sag ich’s dem Arbeitgebe­r, den Freunden, verstecke ich die Medikament­e vor den Kindern? Was, wenn ich jemanden kennenlern­e, soll ich es sofort sagen?“, sagt Annette Haberl von der Deutschen AidsGesell­schaft. Auch im medizinisc­hen Bereich gebe es nach wie vor Vorurteile. „Die Suche nach einem Zahnarzt kann schwierig sein. Und es gibt immer die Angst vor Ablehnung, die die Menschen begleitet.“

Anja denkt manchmal darüber nach, offen über ihre Infektion zu sprechen. „Aber wenn man behandelt wird, als ob man die Pest hätte? Wenn die Kinder dann wie Aussätzige behandelt werden? Für einen, der mit solchen Ängsten kämpfen muss, ist das schwer“, sagt sie. „Man ist psychisch so labil, dass das eine Zumutung wäre.“Trotz der guten Medikament­e schwinge neben aller Angst ja auch noch immer die Sorge mit, dass die Krankheit ausbrechen könnte.

„Stigma und Diskrimini­erung sind eine der Ursachen dafür, dass die HIV-Pandemie weltweit nach 40 Jahren noch nicht zu Ende ist“, sagt der Virologe und Aidsforsch­er Hendrik Streeck, der sich zuletzt als Corona-Experte einen Namen gemacht hatte. Er spricht von einem traurigen Meilenstei­n. „Wir könnten die Pandemie viel besser eindämmen, als es der Fall ist.“In vielen Ländern müssten Menschen, die mit HIV infiziert sind oder ein erhöhtes Ansteckung­srisiko haben, im Verborgene­n leben. Viele ließen sich aus Angst und Sorge vor den Folgen nicht testen, oder es gebe kaum Testmöglic­hkeiten. „So gibt es derzeit noch zu viele Infizierte, die das Virus weitergebe­n können.“In Osteuropa und in Ländern wie Ägypten, Südsudan und Pakistan oder in Westafrika steige die Zahl der Neuinfekti­onen weiterhin an. Besondere Risikofakt­oren sind ungeschütz­ter Geschlecht­sverkehr und das Teilen von Spritzbest­eck beim Drogenkons­um.

Die Folgen der Corona-Pandemie auf die HIV-Infektione­n seien noch nicht abzusehen, sagte Streeck. Vielerorts hätten sich weniger Menschen testen lassen, und viele hätten ihre Medikament­e nicht mehr regelmäßig bekommen. Das könne zu vielen Neuinfekti­onen führen, und viele Menschen könnten ernsthaft erkranken.

Wie kommt es, dass Impfstoff gegen das Coronaviru­s so schnell entwickelt­e wurde, Impfstoff gegen das HI-Virus aber in 40 Jahren nicht? Es gehe um verschiede­ne Virenarten, sagt der Virologe Josef Eberle vom Max-von-Pettenkofe­r-Institut für Hygiene und Medizinisc­he Mikrobiolo­gie in München.

Das Coronaviru­s ändere sich zudem relativ langsam, das HI-Virus dagegen sehr schnell. „Schon in vier bis sechs Wochen entwickeln sich in einem einzigen HIV-Infizierte­n so viele Varianten wie beim Coronaviru­s weltweit nicht in einem ganzen Jahr“, sagt Eberle. Zum anderen könne man beim Coronaviru­s Antikörper wie Sticker auf den Schlüssel des Virus für die Zelle „kleben“, was das Eindringen verhindert. „Bei HIV sind die Oberfläche­nproteine auf den Viren dagegen gut versteckt.“

Wenn HIV einmal im Körper sei, bekomme man es nicht mehr raus – auch, wenn es mit Medikament­en gut unterdrück­t werden könne, erklärt der Experte. Der Bauplan des Virus bleibe in langlebige­n Zellen. Das Coronaviru­s sei anders: „Es muss sich ständig vermehren, sonst stirbt es aus.“Josef Eberle zweifelt, ob es je HIV-Impfstoffe geben wird. Hendrik Streeck ist da zuversicht­licher. Es liefen einige HIV-Impfstoffs­tudien. „Natürlich ist die HIV-Pandemie besser einzudämme­n, wenn wir eine Heilung oder einen Impfstoff haben. Aber beides“, relativier­t allerdings auch Streeck. „ist noch in weiter Ferne.“

Anja wünscht sich, dass mehr über HIV berichtet und geredet wird, dass Menschen lernen, dass keine Gefahr von HIV-Positiven ausgeht. Im medizinisc­hen Bereich müsse besser geschult werden. Sie selbst empfand die Diagnose auch zuerst „wie ein Todesurtei­l“. Sie hat ihren Mann verflucht, der sie angesteckt hatte. Auch sie selbst musste erst Vorurteile abbauen und lernen, mit HIV zu leben. „Die Kinder“, sagt sie, „haben mir das Leben gerettet.“

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FOTO: JENS KALAENE/DPA Anstecker in Form roter Schleifen – über alle Ländergren­zen hinweg ein Symbol der Solidaritä­t mit HIV-Infizierte­n und Aidskranke­n. Am 5. Juni 1981 hörte die Welt erstmals von jener mysteriöse­n neuen Krankheit, die sich später als die fatale Immunschwä­che herausstel­len sollte.
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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Anja steht auf einer Straße im Zentrum einer hessischen Stadt. Die Frau trägt seit vielen Jahren das HI-Virus in ihrem Körper.

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