Giftige Kadaver gefährden Geier
Spanien hat sich zur Hochburg der gefährdeten Tiere in Europa entwickelt – Aber jetzt wird den Aasfressern dort das Schmerzmittel Diclofenac zum Verhängnis
Als Artenschützer den jungen Mönchsgeier im September 2020 tot in seinem Nest in der Region Katalonien im Nordosten Spaniens entdeckten, hatten sie einen „rauchenden Colt“gefunden: Das Tier hatte an einer gichtartigen Erkrankung gelitten, Gefäße und Organe waren schwer entzündet und in Nieren und Leber fanden Toxikologen größere Konzentrationen des Medikaments Diclofenac. Menschen hilft es als Schmerz- und Entzündungsmittel zum Beispiel gegen Prellungen und Zerrungen, in der Tiermedizin wird die Substanz ebenfalls gegen Entzündungen eingesetzt. Fressen Geier am Kadaver eines vorher mit Diclofenac behandelten Tiers, kann das Medikament bei ihnen ein tödliches Nierenversagen verursachen.
Dadurch aber liefert der tote Mönchsgeier einen schlagenden Beweis, dass die Ende 2013 durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) erfolgte Freigabe von Diclofenac als Tierarzneimittel die Geier in Spanien und damit in ihrer Hochburg in der alten Welt gefährden könnte. Die europäischen Behörden sollten dieses Mittel daher aus der Anwendung für Nutzvieh verbannen, fordern Antoni Margalida von der Universität Kastilien-La Mancha in der spanischen Stadt Ciudad Real und sein Team in „Science“.
„Wie gefährlich Diclofenac in der Tiermedizin selbst für einen stabilen Geierbestand sein kann, mussten wir in den 1990er-Jahren in Indien erfahren“, erklärt der Artenschutzreferent des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) Lars Lachmann. Dort warteten einst rund 40 Millionen Bengalen-, Dünnschnabel- und Indiengeier in den Bäumen des Landes und beseitigten rasch und zuverlässig jede verendete Kuh. Dann aber wurden Entzündungen bei Rindern und Pferden häufig mit dem preiswerten Diclofenac behandelt – mit verheerenden Folgen für die Tierwelt. „In gerade einmal 15 Jahren verschwanden in Indien rund 99 Prozent aller Geier, alle drei vorher häufigen Arten standen unmittelbar vor dem Aussterben“, erinnert sich Lars Lachmann.
In einer wissenschaftlichen Detektivarbeit wurden die zunächst rätselhaften Zusammenhänge geklärt: Genau wie in Spanien übernehmen auch in Indien Geier die Funktion von Totengräbern für verstorbene Nutz- und Haustiere, die in Mitteleuropa in Tierkörperbeseitigungsanstalten landen. Wurden Rinder kurz vor ihrem Tod mit Diclofenac behandelt, nehmen die Geier dieses Mittel mit auf. Während das Medikament in Säugetieren und damit auch bei uns Menschen relativ geringe Nebenwirkungen hat, verhindert es in den Nieren der Geier das Ausscheiden von Harnsäure. Rasch lagern sich überall im Körper Kristalle dieser Harnsäure ab und lösen eine Gicht aus, an der die Geier nach wenigen Tagen verenden. „Enthält nur jeder zweihundertste Kadaver Spuren von Diclofenac, kann das Mittel eine Geierpopulation
Dank ihrer imposanten Spannweite von fast drei Metern können Mönchsgeier lange Zeit am Himmel segeln, um Ausschau nach Beute zu halten.
komplett ausrotten“, beschreibt der Artenschutzreferent des Nabu die hohe Giftigkeit der Substanz. „Dadurch verschwindet die lokale Gesundheitspolizei.“
Nachdem in der indischen Tiermedizin Diclofenac nicht mehr eingesetzt wurde, sprangen alle drei Geierarten auf dem Subkontinent dem Tod gerade noch einmal von der Schippe. Artenschützer wie Lars Lachmann und der Geschäftsführer der europäischen Geierschutzorganisation „Vulture Conservation Foundation“(VCT) Jose Tavares waren daher von der EMA-Freigabe von Diclofenac sehr überrascht. In Italien und Spanien wurde das Mittel dann auch rasch für die Behandlung von Nutztieren zugelassen.
„Dabei hatten sich in Spanien die Geierbestände hervorragend entwickelt“, erklärt der Nabu-Ornithologe. Seit die Brutkolonien geschützt werden und die illegale Verfolgung zum Beispiel mit vergifteten Ködern konsequent geahndet wird, konnten sich die Bestände der Gänsegeier von gerade noch 3200 Brutpaaren im Jahr 1979 auf inzwischen mehr als 25 000 Paare erholen. Einer der Gründe, weshalb 90 Prozent aller europäischen Gänsegeier in Spanien leben, ist auch das Verhalten der Viehzüchter des Landes: Die Besitzer einer Finca legen verendete Tiere einfach in einer abgelegenen Ecke ihres Landes ab.
Vielerorts wurden auch „GeierRestaurants“eingerichtet, an denen
regelmäßig die Kadaver verendeter Rinder und Pferde abgelegt werden. Das ist für Geier ein gefundene Fressen, das sie gerne mit ihren Kumpeln teilen: Angesichts eines solchen Festmahls lassen Gänsegeier sich wie ein Segelflugzeug von Aufwinden in einer schraubenförmigen Bahn fast ohne Kraftaufwand nach oben tragen und signalisieren mit dieser „Geierspirale“auch weit entfernten Artgenossen, dass es hier etwas zu holen gibt. Dieses Mannschaftsgefühl
der Geier aber ruft nicht nur viele Artgenossen zu einem Festmahl zusammen, sondern bedeutet auch, dass ein einziger Kadaver mit Diclofenac sehr viele Totengräber auf zwei Flügeln töten kann. Und das gilt nicht nur für Gänsegeier. So ließen der Teamgeist der Geier und die spanische Art der Tierkadaverbeseitigung auch die Zahl der Mönchsgeier im Land auf über 2000 Brutpaare steigen. Dabei gibt es weltweit allenfalls noch zehntausend
Paare dieses mit einer Spannweite bis zu 285 Zentimetern riesigen Vogels. Dazu kommen noch rund 1500 Schmutzgeierpaare, die weltweit erheblich unter Druck sind. Obendrein kommen inzwischen immer wieder Sperbergeier aus Afrika über die Straße von Gibraltar nach Spanien, die als weltweit vom Aussterben bedroht gelten. Einige dieser Tiere leben inzwischen ganzjährig auf der Iberischen Halbinsel, die so zum letzten Zufluchtsort dieser Art werden könnte.
Die Naturschützer vom Nabu, VCT und anderen Organisationen, sowie jetzt auch das Forschungsteam um Antoni Margalida haben also gute Gründe, von der Europäischen Union den Bann von Diclofenac als Tierarznei für Rinder und Pferde zu fordern. Zumal es mit dem von Boehringer Ingelheim hergestellten Meloxicam einen ähnlich wirksamen, preiswerten und für Geier ungefährlichen Ersatz gibt. Das giftige Diclofenac dagegen wurde bereits mehrmals in Kadavern gefunden, die eigentlich in Geier-Restaurants auf den Tisch gelegt werden sollten. Offensichtlich wurden also die Hinweise auf den Beipackzetteln missachtet, nachdem mit Diclofenac behandelte und kurz danach verendete Tiere nicht den Geiern überlassen werden dürften.
Was den Artenschützern bisher aber fehlte, war ein rauchender Colt in Form eines Geiers, der an einer Diclofenac-Vergiftung gestorben war.
Diesen Beweis lieferte jetzt ein Wiederansiedlungsprojekt für Mönchsgeier in Katalonien, das 2007 begann. 2020 lebten 15 Brutpaare und insgesamt 61 Mönchsgeier in der Region, die gut überwacht wurden. Auch der im Nest mit 51,4 Milliardstel Gramm Diclofenac in jedem Gramm seiner Niere verendete Junggeier trug einen Radiosender, der die Artenschützer dann auch über den Tod des Tieres informierte. „Wahrscheinlich sind sogar schon viel mehr Geier durch Diclofenac in Spanien verendet, nur findet man die Überreste von solchen Tieren kaum, solange sie keinen Sender tragen“, überlegt Lars Lachmann.
Von einem Bann von Diclofenac als Tierarznei könnte auch Mitteleuropa profitieren. Fliegen doch immer wieder oft recht große Gruppen junger Gänsegeier und manchmal auch Mönchsgeier auf der Suche nach Kadaver von Spanien bis nach Norddeutschland. „Würden in Mitteleuropa im Straßenverkehr oder natürlich verendete Tiere diesen Geiern angeboten, würden solche Vagabunden vielleicht bleiben“, überlegt Lars Lachmann. Gänsegeier waren ohnehin einst auf der Schwäbischen Alb zu Hause, wo sie sich bei den Kadavern verendeter Schafe aus den dort noch wandernden Herden bedienen konnten. Obendrein gibt es dort auch hohe Felsen, auf denen Gänsegeier ihre Nester bauen könnten. Aber nur, solange sie in Spanien von Diclofenac nicht ausgerottet werden.