Im Bann der Apokalypse
In den 1980er-Jahren waren auf der Ostalb Atomraketen stationiert. Heute ist die Angst vor der nuklearen Vernichtung fast vergessen. Zu Unrecht, mahnen Experten.
Von Uwe Jauß
- Kamillenweg klingt einfach nur gut und gesund. Die beschaulichen neuen Einfamilienhäuser mit ihren nach Landhausstil drapierten Gärten lassen ebenso wenig ahnen, was hier einst auf der Mutlanger Heide unweit von Schwäbisch Gmünd stand: amerikanische Atomraketen, Typ Pershing II, offiziell gedacht als Abschreckung, sollten die Sowjets auf nukleare kriegerische Gedanken kommen. „Ach ja“, meint Klaus Gretzinger entspannt, „das ist eben Teil der Geschichte des Wohngebiets“.
Er stammt aus der durch die Nuklearrüstung bekannt gewordenen Gemeinde Mutlangen. Gretzinger hat sich ein Grundstück auf der einstigen US-Militärfläche gekauft, als sie vor 20 Jahren Neubaugebiet wurde. „Aber einen möglichen Atomkrieg hat doch heute keiner mehr im Kopf.“Das mag ja durchaus für den Kamillenweg gelten, für den Salbeiweg und die weiten Botanikstraßen der Mutlanger Heide. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West? Nur noch was für Historiker. Atomarer Overkill? Heutzutage eher ein Spartenthema.
Diskussionen über die ultimativen Waffen kochen meist nur noch hoch, wenn Nordkoreas roter Diktator Kim Jong-un nuklear zündelt oder das iranische Regime seine Urananreicherung vorantreibt. Weitgehend unbeachtet bleibt hingegen eine jüngst erneuerte symbolische Warnung: Die legendäre Weltuntergangsuhr der zentralen Nuklearforscher-Publikation „Bulletin of the Atomic Scientiest“ist auf 100 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt worden. Soll heißen, die Gefahr wächst, dass vieles auf der Welt verglühen könnte.
Das Spezielle am Zeigerstand: Noch nie war die Erde laut Atomwissenschaftler dem Untergang so nahe wie jetzt – auch nicht als die Pershings von ihren schweren Transportlastwagen auf der Mutlanger Heide gezogen wurden und sich das Wettrüsten beschleunigte. Der Grund dafür ist einfach: „Es gibt heute mehr Staaten, die Atomwaffen besitzen“, sagt die schwedische Abrüstungsspezialistin Beatrice Fihn immer wieder lapidar in
Interviews. Sie ist seit sieben Jahren Direktorin der „International Campaign to Abolish Nuclear Weapons“, einer Organisation, die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Beim Zählen der Atommächte kommt man gegenwärtig auf neun. Fünf davon sind die klassischen Staaten der Weltuntergangsrüstung: die USA, Russland als Nachfolger der Sowjet-Diktatur, China, Großbritannien und Frankreich. Dazu kommen Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Nebenbei beschäftigen sich immer wieder weitere Länder mit dem Griff zur Atombombe. Die nukleare Option lockt, verheißt sie doch ultimative Macht und das Gefühl „mir kann keiner was“. Daran haben alle bisherigen Abrüstungsverträge nichts geändert. Das sieht auch die Abrüstungsspezialistin Fihn so.
Ihre Besorgnis wächst aber nicht allein durch die Verbreitung von Atomwaffen. Fihn nennt weitere Gründe, weshalb die Welt nach ihrer Ansicht ein gefährlicherer Ort als früher geworden ist. Darunter falle die technische Weiterentwicklung von Nuklearwaffen. Zudem wachse „das atomare Risiko, weil Politiker oder Militärs Situationen falsch einschätzen, Kommunikation missdeuten oder Fake News aufsitzen“. Wobei es dies schon alles gegeben hat: verbesserte Vernichtungsstechnik, um vielleicht doch atomar zuschlagen zu können, vermengt mit menschlichen Unzulänglichkeiten oder technischen Pannen – das kennt man. Die Ende der 1970er-Jahre beginnende Pershing-II-Geschichte bietet dazu ein Lehrstück.
Dazu gehören zwei zeitgenössische Sequenzen der Fast-Vernichtung. So erhielt am 26. September 1983 ein Offizier der sowjetischen Luftüberwachung eine Meldung über anfliegende US-Raketen. Eigentlich hätte er den Gegenschlag in die Wege leiten müssen. Was der Mann zum Glück nicht tat. Er votierte auf Fehlalarm. Letztlich stellte sich heraus, dass Sowjetsatelliten Sonnenreflexionen bei einer USRaketenbasis als Angriffsstart interpretiert hatten.
In den folgenden Wochen bereitete die Nato das Atomkriegsmanöver
Able Archer 83 vor. Der Sowjet-Geheimdienst sah darin den Start für einen echten nuklearen Angriff – zumal man eigene Pläne in der Schublade hatte, den Westen aus einem als Manöver getarnten Truppenaufmarsch heraus anzugreifen. Als im Herbst 1983 aber schließlich Nato-Geheimdienste eine gewisse sowjetische Aufgeregtheit feststellten, wurde die Übung vorsichtshalber beendet.
Indes lief in Mutlangen die Vorbereitung zur Pershing-II-Stationierung. Das Dorf rückte aus seinem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf am Rande des Welzheimer Waldes ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Die Friedensbewegung fokussierte ihren Widerstand auch auf Mutlangen. Viele Einheimische konnten mit den als seltsam empfundenen Demonstranten erst einmal wenig anfangen. Dies besagen zumindest örtliche Erinnerungen. Darin verteilen nette Amerikaner Kaugummis an Kinder. Friedensbewegte wurden als Störer der DorfRuhe begriffen – zumal, wenn sie langhaarige Hippies waren.
Um den Jahreswechsel 1983/84 trafen die ersten Pershing II ein. Dass Mutlangen damit auf dem sowjetischen Zielradar wandelte, scheint im Dorf gerne verdrängt worden zu sein. Auch dort wurde folgender Spruch kolportiert: „Lieber eine Pershing im Garten als ein Roter im Bett.“Bis 1987 hatten die
Mutlanger die Raketen vor der Haustüre. Dann wurden sie nach dem Abschluss eines Abrüstungsvertrags mit den Sowjets verschrottet, die Amerikaner zogen kurz darauf von der Heide ab.
Zuvor waren viele zum Demonstrieren nach Mutlangen gereist, darunter linke Prominenz. Der Schriftsteller Heinrich Böll, der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens oder der damals noch in der SPD befindliche Politiker Oskar Lafontaine reihten sich in Menschenketten zur Blockade des USStützpunktes ein. Ihr Stolz war gewaltloses Agieren. Die deutsche Polizei durfte die Blockierer wegtragen. Was sie mehr oder weniger harsch tat.
Wichtiger lokaler Helfer der Friedensbewegung wurde ein im Dorf als Außenseiter verschriener Bauer. Er stellte den Protestlern einen Schuppen als Quartier zur Verfügung. Daraus wurde die später bekannte „Pressehütte“. Sie diente dazu, den Militärverkehr zu beobachten. Und weil immer jemand da war, wurde der Schuppen zum Anlaufpunkt für Medien. Die beiden anderen deutschen Pershing-IIStandorte hatten diesen Kulminationspunkt für Öffentlichkeitsarbeit nicht: weder die Waldheide bei Heilbronn noch die Lehmgrube bei Neu-Ulm.
Die „Pressehütte“existiert noch immer – nur dass sie jetzt wie ein herausgeputztes hölzernes Wohnhaus wirkt. Der Verein Friedenswerkstätte Mutlangen hat darin seinen Sitz. Auf dem Außengelände informieren Tafeln über die Ereignisse vor vier Jahrzehnten – bis heute aber ein wenig linksideologisch eingefärbt. Die Geschichte beginnt hier mit der Pershing-IIStationierung. Dass die Sowjetunion zuvor atomar bestückte Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 mit Zielrichtung Westeuropa aufgestellt hat, bleibt unerwähnt.
In den Nato-Staaten wurde das Waffensystem der UdSSR von Politikern wie Militärs als höchst brisant eingestuft. Die Flugdauer des Geschosses war so kurz, dass im Ernstfall nur eine sehr kurze Reaktionszeit verblieben wäre. So sah der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt das strategische Gleichgewicht in Europa gefährdet: „Ich fürchtete, dass das eines Tages (…) ein Instrument zur Nötigung Deutschlands werden könnte. Die Raketen waren im Wesentlichen auf Deutschland gezielt“, sagte er später.
Schmidt gehörte auch zu jenen, die eine nukleare Nachrüstung des Westens vorschlugen, um so die Sowjets zu Verhandlungen zu bewegen. Daraus wurde 1979 der NatoDoppelbeschluss: selbst in Westeuropa aufrüsten und mit den Sowjets über die Begrenzung des Arsenals zu verhandeln. Aus dem Verhandeln wurde zunächst nichts, die Raketen aber kamen – aus den USA.
Denn alleine konnte der Kanzler nichts tun. Auf US-Druck hatte die Bundesrepublik in den 1960erJahren der Atombombe abgeschworen. Doch die Raketen der Sowjets waren einmal mehr nicht Anfang der Geschichte gewesen. Dieser lag bei der britischen und französischen Atomrüstung. Sowjetstrategen hatten ihre Neuentwicklung als Antwort darauf verstanden. Die zum allergrößten Teil außer Reichweite der SS-20 liegende USA war weniger im Fokus.
Militärs aller Seiten planten bis in die 1980er-Jahre, einen Atomkrieg selbst auf begrenzten Schlachtfeldern zu führen – und dies mitten im dichtbesiedelten Europa. So sollten etwa US-Nuklearminen ein sowjetisches Vorstürmen im Raum Fulda verhindern. Möglich, dass es geklappt hätte. Nur wäre dann Osthessen nicht mehr vorhanden gewesen.
Wer seinerzeit zur Bundeswehr eingezogen wurde, durfte in der Grundausbildung spezielle atomare Exerzierelemente erleben. Sie wirken heute wie Realsatire. Der Unteroffizier brüllte etwa „Lichtblitz von rechts“– soll heißen, Atomexplosion rechts. Dann hatte man sich mit dem Stahlhelm in diese Richtung in den Dreck zu werfen. Er sollte Strahlen abhalten.
In bestimmten Intervallen musste der Bundeswehrschütze auf
Wachtürme in seltsamen Munitionslagen steigen, Depots, wo sich auch Amerikaner herumtrieben. Bei Landsberg am Lech gab es das
Lager Leeder, bei Pfullendorf war es Mottschieß. Neben Leutkirch im Allgäu lag die Muna Urlau, heute ein Feriendorf. Überall stand im Raum, dass die Amerikaner dort Atomwaffen lagern, anfangs sogar nukleare Munition für Kanonen mit einer beschränkten Reichweite von vielleicht 30 Kilometern.
Später kamen Gefechtsköpfe für Kurzstreckenraketen dazu: Honest John, Lance, Pershing I, Typen, die sich auch die Bundeswehr anschaffte. Für die eigentlich atomwaffenfreie Truppe gab es ein Hintertürchen zum finalen Kriegsinstrument: das hochpolitische Konzept der nuklearen Teilhabe. Grob beschrieben, durften die Westdeutschen im Ernstfall nach Mit- und Absprache nukleare US-Sprengköpfe zum Einsatz bringen. Dasselbe hatten übrigens die Sowjets für die DDRVolksarmee vorgesehen.
Ein letztes sichtbares Element der Teilhabe ist die Tornado-Staffel der Luftwaffe auf dem Eifeler Fliegerhorst Büchel. Dort lagern laut der empörten Friedensbewegung gegenwärtig die einzig verbliebenen Atomwaffen auf deutschem Boden, bereit, um von der Luftwaffe benutzt zu werden.
In Mutlangen ist von der alten Rüstung hingegen fast nichts mehr zu erblicken: zwei ehemalige Munitionsbunker, Reste einer Flugzeuglandebahn bei einem Solarpark. Dafür gibt es aber am Rand der Neubausiedlung wenigstens einen Geschichtspfad. Bürgermeisterin Stephanie Eßwein betont: „Es ist wichtig, dass die Erinnerung erhalten bleibt.“
Ihre Gemeinde hat sich auch dem internationalen Verband der „Bürgermeister für den Frieden“angeschlossen. „Wirklich? Das wusste ich ja gar nicht, dass es so was gibt“, meint eine jüngere Dame, die in der Mittagssonne mit ihrem Hund bei den letzten Bunkern Gassi geht. Diese finsteren Bauten lassen die zugezogene Frau ebenso ratlos zurück. Worauf sie verzichtet, den Namen zu nennen. Ihr scheint das Nichtwissen peinlich zu sein.