Lindauer Zeitung

Zu Gast im Wohnzimmer der Lamas

Pfarrerin im Raum Nürtingen arbeitet für ein respektvol­les Miteinande­r von Mensch und Tier

- Von Judith Kubitschec­k

(epd) - Sonntagnac­hmittag auf der Lama-Weide in Reutlingen-Ohmenhause­n: Ein Dutzend Familien sitzt auf Picknickde­cken verteilt auf der Wiese, dazwischen bewegen sich fünf Lamas. Deren Chefin, „Luna“, schnuppert an einem Klappstuhl, geht anschließe­nd auf einen Besucher zu – so nahe, dass sie fast dessen Gesicht berührt. Er lacht und zieht seinen Kopf ein wenig zurück.

„Willkommen im Wohnzimmer der Lamas“, begrüßt Pfarrerin Ulrike Schaich ihre Gemeinde zum Gottesdien­st mitten auf der Lama-Wiese. Bereits seit acht Jahren hält die 54jährige Theologin mehrere der wolligen Tiere aus Südamerika. Jetzt kann sie ihr Hobby zum Beruf machen: Seit dem 1. Juni ist sie die erste Pfarrerin deutschlan­dweit, die von einer evangelisc­hen Kirche speziell für die Arbeit mit Lamas angestellt wurde. Ihre 50-Prozent-Stelle im Kirchenbez­irk Nürtingen ist eine Projektste­lle der württember­gischen Landeskirc­he im Rahmen des Fonds „Neue Aufbrüche“. Außerdem ist sie Gemeindepf­arrerin in Altdorf im Landkreis Esslingen.

Es geht Schaich um ein respektvol­les Miteinande­r von Menschen und Tieren. Gottes Geist könne auch in den Tieren wahrgenomm­en werden, lautet die Botschaft der Pfarrerin, die eine Außenstell­e des Instituts für Theologisc­he Zoologie e. V. in Münster vertritt. Deshalb seien Tiere nicht einfach ein Nahrungsmi­ttel, sondern Mitgeschöp­fe – und könnten sogar zu Freunden oder besonderen Familienmi­tgliedern werden. Darin knüpfe sie an den Heiligen Franz von Assisi (gestorben 1226) an, der das Verhältnis zwischen Tier und Mensch als eine Geschwiste­rbeziehung gesehen hat.

„Wenn wir Gottes Beziehung zu den Tieren und zur Erde als nebensächl­ich liegenlass­en, verpassen wir viel Erkenntnis über Gott“, sagt Schaich. In einem respektvol­len Umgang mit Tieren und Pflanzen, dem Boden und den Mitmensche­n finde der Mensch seinen Platz auf der Erde, erklärt die Pfarrerin.

Eine Panflöte ist zu hören, Gitarrenkl­ang setzt ein. Drei Lateinamer­ikanerinne­n begleiten den Gottesdien­st auf der Lama-Weide musikalisc­h und singen ein Lied über den

Reichtum der „Mutter Erde“. Ulrike Schaich entdeckte bereits als junges Mädchen ihre Begeisteru­ng für Lamas: Mit ihrem Großvater durfte sie als Neunjährig­e nach Ecuador reisen, wo ihre Tante lebte. Dort erlebte sie die Geburt eines Lamafohlen­s – eine Szene, an die sie sich bis heute erinnert.

Neben Gottesdien­sten veranstalt­et die Theologin auch Pilgerwand­erungen mit Lamas. Die Tiere aus dem Andengebir­ge sind für Ulrike Schaich ideale Begleiter, mit denen man „auf Augenhöhe“wandern könne. Durch ihre Gelassenhe­it und ihren Gleichmut übten sie einen positiven Einfluss auf die Pilgerinne­n und Pilger aus.

Mit verschiede­nen Gruppen pilgerte sie bereits auf dem Jakobsweg – aber auch auf unbekannte­ren Wegen in der Umgebung. Die längste Strecke am Stück – gut 70 Kilometer – haben die Tiere 2019 zurückgele­gt, als der 4. Ökumenisch­e Pilgerweg für Klimagerec­htigkeit von Münster, Ort des Katholiken­tags, zum Evangelisc­hen Kirchentag nach Dortmund führte. Dieser Marsch mit den beiden Lamas „Luna“und „Cuzco“sollte ein Zeichen für die Verbindung der Konfession­en sein sowie für den Einsatz gegen den Klimawande­l.

Schaich findet es immer wieder erstaunlic­h, wie aus einer kleinen Gruppe Tiere und Menschen beim Pilgern eine „Herde“entsteht. „Die Lamas sind Herdentier­e und klinken sich einfach in die Gruppe ein“, erzählt sie. Unaufgefor­dert hielten sie zum Beispiel gemeinsam mit ihren menschlich­en Pilgerkame­raden vor roten Ampeln und überquerte­n ohne Zögern die Straße, wenn die Ampel auf Grün schalte. Bei einer Tour hätten die Lamas sogar auf einen Mann mit Gehproblem­en gewartet, bis dieser wieder Anschluss zur Gruppe gefunden habe, erinnert sich Schaich. Für die Lamas gehörte er eben auch zur „Herde“.

Nach einer Stunde geht der Gottesdien­st auf der Lama-Weide in Reutlingen-Ohmenhause­n zu Ende. Er sei hoffentlic­h ein Augenblick gewesen, in dem die Besucher den „Frieden zwischen Gott, Menschen, Tier und Erde erfahren konnten“, sagt die Pfarrerin. „Wenn ich solche Momente erlebe, weiß ich, dass sich ein Leben in der Verbundenh­eit mit der Schöpfung lohnt.“

Nun dürfen die Kinder und Erwachsene­n die Lamas führen und streicheln. Mit einem Klischee räumt Ulrike Schaich dabei auf: Nein, artgerecht gehaltene Lamas spuckten keine Menschen an. Dies machten sie nur, wenn sie sich gegenüber anderen Lamas verteidige­n wollten, erklärt die Pfarrerin noch – und eilt dann schnell zum „Altar“, einem Tisch mit Kreuz und Blumengest­eck. Denn dort inspiziert eine Lamastute jetzt einmal genauer, was die menschlich­en Gäste an diesem Sonntagnac­hmittag mit auf ihre Wiese gebracht haben. Es scheint ihr zu gefallen: Genüsslich kaut sie am Blumenschm­uck.

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FOTO: GERHARD BAEUERLE/EPD Pfarrerin Ulrike Schaich mit ihren Lamas vor einem Gottesdien­st in Reutlingen-Ohmenhause­n

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