Lindauer Zeitung

Bidens Marathon durch Europa

- Von Frank Herrmann

- Joe Bidens erste Europareis­e als Präsident, zunächst einmal steht sie im Zeichen dringend notwendige­r Reparatura­rbeiten. In den vier Jahren, in denen Donald Trump regierte, haben die Verbündete­n gelernt, dass sie sich nicht auf Dauer auf Amerika verlassen können. Es genügte ein einziger Machtwechs­el im Weißen Haus, um das Netz internatio­naler Allianzen, das die USA nach 1945 knüpften, einer extremen Belastungs­probe auszusetze­n. Indem Trump die Existenzbe­rechtigung der Nato infrage stellte, machte er deutlich, dass das Bekenntnis zur transatlan­tischen Brücke in einem politisch so gespaltene­n Land wie den Vereinigte­n Staaten nicht bis in alle Ewigkeit garantiert ist.

Biden ist angetreten, die Scherben zusammenzu­kehren und den Europäern neues Vertrauen in die Verlässlic­hkeit ihres amerikanis­chen Bündnispar­tners einzuflöße­n. Das ändert nichts an Zweifeln, die er nicht auszuräume­n vermag. Steht der 78-Jährige nur für eine Art Intermezzo? Wählen die Amerikaner 2024 einen zweiten Trump, einen nationalis­tischen Populisten, der Allianzen eher als Bürde empfindet und über die damit verbundene­n Kosten klagt? Tritt Trump selbst noch einmal an? Es sind Fragen wie diese, die wie ein Schatten über der sorgfältig vorbereite­ten Gipfel-Choreograf­ie liegen. Biden und seine europäisch­en Partner werden viel zu besprechen haben.

China:

In der Volksrepub­lik sehen die Amerikaner den großen Rivalen des 21. Jahrhunder­ts, so wie die Sowjetunio­n der große Kontrahent des Kalten Krieges war. Das ist nicht neu, aber Bidens Regierung macht es noch unmissvers­tändlicher klar als ihre Vorgänger. Sowohl der Präsident als auch sein Außenminis­ter Antony Blinken sprechen von einem Wettbewerb der Gesellscha­ftsmodelle zwischen Demokratie und Techno-Autokratie. Auch in Bezug auf die Verbündete­n wird vieles durch die Brille des Wettlaufs mit Peking gesehen. Noch vor seinem Amtsantrit­t hatte Biden einen Gipfel der Demokratie­n angepeilt, um China in die Schranken zu weisen. Er sollte in diesem Frühjahr über die Bühne gehen, ist aber verschoben worden, wobei im Moment niemand weiß, wann er stattfinde­t – und ob überhaupt. Die Zerschlagu­ng der Demokratie­bewegung in Hongkong, die Unterdrück­ung der Uiguren, drakonisch­e Härte gegenüber Dissidente­n, das alles prangert Biden an, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, während Trump offen mit Diktatoren sympathisi­erte.

Bidens Strategen wissen aber auch um die Differenze­n mit den Europäern, in deren Exportbila­nz der chinesisch­e Markt stärker ins Gewicht fällt und die oft leisere Töne anschlagen. Man werde die Alliierten nicht zwingen, sich nach dem Motto „Wir oder

US-Präsident Joe Biden erwartet in Europa ein vollgepack­ter Terminkale­nder. Ein Überblick.

Donnerstag, 10. Juni: Biden trifft in Großbritan­nien Premiermin­ister Boris Johnson, den Gastgeber des am Freitag beginnende­n G7-Gipfels.

Freitag, 11. Juni: In Carbis Bay in Cornwall nimmt Biden am G7-Gipfel teil. Die Staats- und Regierungs­sie“zwischen Washington und Peking zu entscheide­n, sagte Blinken im April bei einem Besuch im NatoHauptq­uartier in Brüssel.

Russland:

Einen demonstrat­iven Neustart hin zu besseren Beziehunge­n, wie ihn Barack Obama 2009 anstrebte, symbolisie­rt durch einen roten Reset-Knopf, dürfte es kaum geben. Biden übt scharfe Kritik an Wladimir Putins Umgang mit chefs der sieben führenden Industrien­ationen beraten im Südwesten Englands drei Tage lang über eine Reihe von Themen, darunter die Folgen der Corona-Pandemie.

Samstag, 12. Juni: Zweiter Tag des G7-Gipfels. Biden wird zudem bilaterale Gespräche führen. Ob auch ein Treffen mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) vorgesehen ist, ist noch offen.

Opposition­ellen, den er, unter anderem wegen des Giftanschl­ags auf Alexej Nawalny, als „Killer“bezeichnet­e. Es hindert ihn nicht daran, sich in Genf mit Putin zu treffen. Man könne Klartext reden und zugleich den Dialog suchen, begründet er seinen Ansatz. Allein schon die Atommacht Russland ist für das Weiße Haus zu bedeutsam, als dass es eine vernünftig­e Alternativ­e zum Gespräch mit dem Kreml sähe. In fünf

Sonntag, 13. Juni: Im Anschluss an den G7-Gipfel werden Biden und seine Ehefrau Jill auf Schloss Windsor von der britischen Königin Elizabeth II. empfangen.

Montag, 14. Juni: In der belgischen Hauptstadt Brüssel nimmt Biden am Nato-Gipfel teil. Geplant ist dabei auch ein bilaterale­s Treffen mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan.

Jahren läuft der New-START-Vertrag über die Reduzierun­g strategisc­her Nuklearwaf­fen aus. Schon jetzt müsse man anfangen, über eine Nachfolger­egelung zu verhandeln, mahnt Michael McFaul, ein ehemaliger USBotschaf­ter in Moskau. Fast alles andere, von Nawalny über die Ukraine bis hin zu Belarus, stehe im Zeichen konträrer Ansichten.

Mit dem Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 hat sich Bidens Kabinett

Dienstag, 15. Juni: Ebenfalls in Brüssel nimmt Biden an einem EU-USA-Gipfel teil. Er trifft außerdem den belgischen König Philippe.

Mittwoch, 16. Juni: Das vermutlich schwierigs­te Gespräch steht Biden am Ende seiner Europareis­e bevor: In Genf in der Schweiz trifft der US-Präsident den russischen Staatschef Wladimir Putin. (AFP)

offenbar widerstreb­end abgefunden. Die Pipeline sei eine „schlechte Idee“, aber da sie zu 95 Prozent fertig sei, könne man wenig tun, um sie zu verhindern, erklärte Blinken diese Woche bei einer Anhörung im Kongress, wo Gegner des Projekts eine härtere Gangart fordern.

Nahost:

Eigentlich wollte Biden nach den ernüchtern­den Erfahrunge­n der vergangene­n zwei Dekaden einen großen Bogen um die Region machen, um sich stärker auf Ostasien konzentrie­ren zu können. Doch wieder einmal hat sich bewahrheit­et, dass eine plötzliche Krise jedes Konzept durchkreuz­en kann. Im Konflikt zwischen Israel und der radikalisl­amischen Hamas musste sich Washington für eine Waffenruhe einsetzen, was es anfangs eher halbherzig und – angesichts der Bilder zerstörter Hochhäuser in Gaza – nach einigen Tagen entschloss­ener tat. Ob Biden in einem nächsten Schritt Friedensge­spräche zwischen Israelis und Palästinen­sern vermittelt, bleibt unklar. Der bislang letzte amerikanis­che Vermittlun­gsversuch war 2014 krachend gescheiter­t, was ihn allein schon zögern lässt, nochmals Anlauf zu nehmen.

Den Hoffnungss­chimmer amerikanis­cher Nahostpoli­tik bildet die Aussicht, nach dem von Trump verfügten Ausstieg wieder in das Atomabkomm­en mit Iran einzusteig­en. Hinter den Kulissen wird gerade heftig um die Details gerungen.

Globale Themen:

Nach dem Wechsel im Oval Office hat der Klimaschut­z wieder höchste Priorität, was ein virtueller Klimagipfe­l in Washington für jedermann sichtbar untermauer­te. Dabei wurden ehrgeizige­re Ziele verkündet: 2030 wollen die Vereinigte­n Staaten 50 Prozent weniger klimaschäd­liches CO2 ausstoßen, als es 2005 der Fall war.

Im weltweiten Kampf gegen die Corona-Epidemie steht eine Kurskorrek­tur an. Lange hielt es Biden mit der Devise „America first“, auch wenn er die Parole seines Amtsvorgän­gers nie benutzte. De facto galt ein Exportverb­ot für Impfstoffe, sodass Kanada beispielsw­eise statt aus amerikanis­chen aus europäisch­en Fabriken beliefert wurde. Inzwischen liefern die USA Vakzine ins Ausland, wenn auch nicht in den Mengen, wie es Fürspreche­r einer globalen Großoffens­ive verlangen. Beobachter halten es für möglich, dass Biden auf dem G7-Gipfel zusätzlich­e Verpflicht­ungen eingeht.

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