Wehret den Anfängen
Bernhard Schlink legt mit „20. Juli“erstes Theaterstück über politische Verantwortung vor
Vor knapp einem Jahr legte Bestsellerautor Bernhard Schlink den Erzählband „Abschiedsfarben“vor. Nun folgt mit „20. Juli“sein erstes Bühnenwerk; ein Gedankenspiel um Moral, Tyrannenmord und Verantwortung der Generationen. Auch wenn die Gespräche mit den Theatern noch laufen – eine Uraufführung von „20. Juli. Ein Zeitstück“dürfte nicht lange auf sich warten lassen: Denn Bestsellerautor Bernhard Schlink legt damit nicht nur sein erstes Bühnenwerk vor, sondern entwirft ein hochaktuelles „Gedankenspiel“– so der „Nachtitel“– über Deutschland im Jahr der Bundestagswahl. Dabei geht es wie so oft bei dem früheren Verfassungsrichter Schlink (76) um Moral, Verantwortung und mögliche Lehren aus der Geschichte.
Der letzte Schultag eines Geschichte-Leistungskurses fällt ausgerechnet auf den Jahrestag des Hitler-Attentats vom 20. Juli. Am Vortag hat die Rechtsaußen-Partei „Deutsche Aktion“mit ihrem charismatischen Führer Rudolf Peters die Landtagswahl gewonnen. Unter den fünf Abiturienten und ihrem Lehrer entbrennt eine hitzige Debatte: Das Attentat kam 1944 viel zu spät; es hätte bereits 1931 begangen werden müssen. Was ist daraus zu lernen?
Wann musste man wissen, was Hitler mit Deutschland vorhatte, und wann musste man handeln, um es zu verhindern? Wie weit soll und darf man gehen, wenn wieder ein Politiker aufsteigt, der ins Unheil zu führen droht? Saubere Hände behalten oder schmutzige riskieren?
Diese Fragen stellen sich Esther, Fabian, Maria, Niklas und Paul, alle zwischen 18 und 22, zusammen mit ihrem
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Lehrer Ulrich Gertz (32). Und gelangen scheinbar zu einem folgenschweren Entschluss. Dabei kommen im Laufe der 26 Szenen, die im wesentlichen in der Schule und Fabians Garten spielen, alte Konflikte und vermeintliche Geheimnisse ans Licht, Allianzen werden geschmiedet und aufgelöst, Gewissheiten gewonnen und zerstört.
Schlink geht es nicht um große theatralische Gesten, sondern um Gedanken und Argumente. In fast Brechtscher Manier verfügt er in der ersten Regieanweisung, dass Peters, Politiker der „Deutschen Aktion“, „attraktiver deutscher Kennedy in Jeans, offenem Hemd und Jackett“, während des gesamten Stücks dabei ist: „stehend, auf und ab gehend, beobachtend, mal amüsiert, mal verwundert, mal irritiert, und wenn von ihm die Rede
ist, springt er ein und spricht“. So beispielsweise, als es um einen Wahlkampfauftritt geht: „Nein zur Überfremdung, Nein zur Umvolkung, Nein zum Volkstod“, skandiert Peters in perfektem rechten Jargon. Schlink lässt keinerlei Zweifel daran, wen er mit der „Deutschen Aktion“meint. Und die jungen Schulabgänger liefern treffende Analysen: „Es war schon übel, als alle Rechten Dumpfbacken waren“, sagt Niklas. „Dann gab’s auf einmal rechte Intellektuelle … und es wurde schlimmer … Jetzt haben wir einen Rechten mit Charisma, und es ist richtig übel.“Aber selbst zu „Lichtgestalten des Widerstands“wie Stauffenberg, Elser oder die Geschwister Scholl werden? „Was haben sie erreicht?“, fragt Fabian. „Nichts. Von ihnen lernen? Loser werden wie sie?“
Schlink, selbst zwei Wochen vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 geboren, liefert keinen Fantasiestaat „Andorra“mit erfundenen Parteien und Politikernamen, sondern bezieht sich glasklar auf die politische Weltlage im Frühjahr 2021: „Es ist das neue Modell. Ein starker Führer und ein Volk, das gelegentlich Beifall klatschen darf. Die Chinesen, die Russen, die Polen, die Ungarn haben es, Amerika ist noch mal dran vorbeigeschrammt – bis zum nächsten Trump“, sagt Fabian.
Spannung bringen die unterschiedlichen Charaktere: Lehrer Gertz will moralisches
Vorbild sein, doch hat der Familienvater ein Verhältnis mit seiner
Schülerin Esther.
Die Idealistin, die aus Liebe zur Gerechtigkeit Jura studieren will, ist von Gertz tief enttäuscht. Analytiker Niklas will
Geschichte studieren. Maria, sensibelste Figur des Stücks, möchte Ärztin werden. Sie radikalisiert sich am stärksten, erinnert an Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Fabian, der Journalist werden will, ist ein Zyniker, der andere manipuliert. Paul, angehender Ingenieur mit Hang zu Sprüchen: „Wer zu spät schießt, den bestraft das Leben.“Und Fabians Großvater, „Der Alte“, der gerne Verantwortung übernehmen würde. Ein Buch, das sich zur Schullektüre eignen würde. (KNA)
Bernhard Schlink: 20. Juli. Ein Zeitstück. Diogenes, 96 Seiten, 13,99 Euro.