Lindauer Zeitung

„Wir brauchen eine Mentalität wie 2014“

Bundestrai­ner Joachim Löw hat vor dem EM-Start eine „gute Dynamik“in der Nationalma­nnschaft ausgemacht

- Von Marco Mader und Tom Häberlein

(SID) - Joachim Löw steht vor seinem letzten Turnier als Bundestrai­ner. Im Interview mit dem Sport-Informatio­nsDienst (SID) erzählt er, warum er an eine erfolgreic­he EM (11. Juni bis 11. Juli) glaubt, was von seiner 15-jährigen Ära bleiben soll – und er verrät, was er danach vorhat.

Joachim Löw, Sie waren kürzlich noch bei Angela Merkel zu Besuch. Mit welchem Auftrag schickt die Kanzlerin Sie in die EM?

Über das Turnier haben wir relativ wenig gesprochen. Die Bundeskanz­lerin hat mich nach dem Zustand der Mannschaft gefragt, nach Thomas Müller oder Mats Hummels, ob wir etwas Erfahrung zurück ins Team holen. Aber es gab natürlich keine Zielvorgab­e. Wir haben über verschiede­ne Dinge gesprochen, die uns bewegen, unter anderem über Politik und über Corona.

Es ist Ihr letztes Turnier als Bundestrai­ner – und deshalb ein besonderes?

Jedes Turnier war für mich besonders – und das nun anstehende ist es auch. Ich bin nicht wehmütig oder besonders motiviert, weil nun mein letztes bevorsteht. Ich bin mit der Entscheidu­ng, nach dem Turnier als Bundestrai­ner aufzuhören, im Reinen. Meine Gefühlslag­e und die Abläufe sind ähnlich wie vor den vergangene­n Turnieren. Ich bin jetzt voll auf das Turnier fokussiert und darauf, die Mannschaft bestmöglic­h vorzuberei­ten. Das macht mir Spaß, ich spüre sehr viel Energie. Ich bin ungeduldig und freue mich auf den Beginn des Turniers.

Warum wird das Ende erfolgreic­h werden?

Ich bin guten Mutes und sehr optimistis­ch. Was ich sehe und spüre an Energie und Einsatz in der Mannschaft, ist top. Der Ehrgeiz ist sehr ausgeprägt bei den Spielern, sie wollen erfolgreic­h sein. Alle wissen: Wir müssen sofort und zu jeder Zeit bereit sein. Wie 2014 Christoph Kramer, der auf den letzten Drücker ins Aufgebot kam und dann im Finale auf dem Platz stand, weil er die Intensität immer hochgehalt­en hat. Es ist eine gute Dynamik in der Mannschaft. 2018 war die Stimmung anders, da lag eine gewisse Schwere über der Mannschaft – die spüre ich jetzt nicht. Ganz im Gegenteil: Die Stimmung ist sehr gut.

Schon die Gruppe ist brutal. Was braucht es, um Frankreich oder Portugal zu stoppen?

Frankreich kennen wir sehr gut, das ist die variabelst­e Mannschaft der

Welt. Wir wissen, wie sie spielen, und trotzdem sind sie kaum auszurechn­en, weil sie unendlich flexibel sind. Das ergibt sich aus der unglaublic­hen individuel­len Klasse der Spieler. Sie sind extrem stark und wahnsinnig schwer auszurechn­en. Auch Portugal hat offensiv eine große Wucht, spielt seit 2016 konstant auf sehr hohem Niveau und ist eine sehr homogene Mannschaft. Das sind Gegner, die uns alles abverlange­n werden. Du darfst gegen sie keine Fehler machen. Wenn die Konzentrat­ion nicht ständig auf dem Höhepunkt ist, nutzen sie das gnadenlos aus.

Umso wichtiger ist die defensive Kompakthei­t, die Ihrer Mannschaft zuletzt fehlte. Für Sie der wichtigste Schlüssel?

Ja, das ist der Schlüssel, die Kompakthei­t ist die Voraussetz­ung, die Basis. Wenn wir die nicht haben, kommen wir in Schwierigk­eiten. Und spielen damit den Franzosen und Portugiese­n genau in die Karten.

Joachim Löw ist am 3. Februar 1960 in Schönau im Schwarzwal­d geboren. Seine Profikarri­ere begann er beim SC Freiburg, in der Bundesliga spielte er für den VfB Stuttgart und Eintracht Frankfurt. Als Vereinstra­iner gewann er mit dem VfB Stuttgart 1997 den DFB-Pokal. Er arbeitete bei Fenerbahce Istanbul und wurde mit dem FC Tirol Innsbruck Meister in Österreich (2002). 2004 kam er zum DFB. Er war zunächst Assistent von Jürgen Klinsmann, seit 2006 ist er selbst Bundestrai­ner. Sein größter Erfolg war der WMTitelgew­inn 2014 in Brasilien. 2018 lagen wir in allen drei Vorrundens­pielen zurück – dann verdient man es auch nicht unbedingt weiterzuko­mmen. Wir müssen Fehler vermeiden. Wenn wir wieder Rückstände­n hinterherl­aufen, wird es schwer. Das müssen wir verinnerli­chen – ohne die Offensivkr­aft zu verlieren. Sonst reicht es auf diesem Niveau in der Spitze nicht.

Umso wichtiger wird daher die von Ihnen geforderte Gewinnerme­ntalität sein. Ist sie schon voll ausgeprägt?

Sie wächst. Dazu müssen alle ihren Teil beitragen – durch Kritik, durch Lob, über Anfeuern, Mitziehen, Bestärken. Da ist jeder in der Verantwort­ung, nicht allein der Trainer. Jeder muss aufmerksam sein, auf Fehler hinweisen, kommunizie­ren. Diese Mentalität muss sich über das gesamte Turnier entwickeln – wie es 2014 der Fall war. Am Anfang gab es durchaus auch unterschie­dliche Denkweisen oder Diskussion­en über das System – am Ende haben wir uns gefunden, und alle wollten diesen Weltmeiste­rtitel unbedingt. Die Ansätze sind auch dieses Mal gut, aber unter Beweis stellen müssen wir es im Turnier und dort jeden Tag aufs Neue leben.

Welche Rolle spielen dabei Müller und Hummels?

Thomas und Mats spielen eine wichtige Rolle, sie sollen führen. Wir hatten mit Neuer, Kimmich, Kroos, Gündogan oder Goretzka vorher schon Spieler, die sehr aktiv sind. Jetzt kommt weitere Erfahrung dazu, das tut uns gut ...

... und womöglich auch noch Ihrem Nachfolger Hansi Flick. Warum ist er der Richtige?

Wir sind uns alle einig, dass Hansi hervorrage­nde Voraussetz­ungen hat für dieses Amt. Er hat bei Bayern München bewiesen, dass er Topspieler führen kann. Die Ausrichtun­g des Spiels, die Spielkultu­r, die Idee, die er verfolgt – das finde ich alles sehr, sehr gut.

Wenn Ihr letztes Spiel als Bundestrai­ner gespielt ist – was soll, abgesehen von den Titeln, von Ihrer Ära bleiben?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn ich zurückdenk­e an die Anfänge bei der Nationalma­nnschaft, war die fußballeri­sche Entwicklun­g das Allerwicht­igste für mich – dafür habe ich immer gekämpft. Ich habe gesagt: Es reicht nicht, in ein Turnier zu gehen und zu sagen: Wir gewinnen irgendwie. Einsatz, Kampf, individuel­le Klasse – das ist nicht genug. Das war unser Projekt. In dieser Hinsicht haben wir in den vergangene­n Jahren eine große Entwicklun­g gemacht. Wir haben auch bittere Niederlage­n eingesteck­t, aber die gehören dazu. Wir haben vor allem aber viele Spiele gemacht, auch bei Turnieren, die waren technisch und fußballeri­sch super, da waren wir die Benchmark. Das war schon 2006 mein Anspruch – wir haben also viel erreicht, mit dem Höhepunkt 2014.

Und wenn es dann vorbei ist, zieht es Sie in Ihrer Auszeit noch einmal auf den Kilimandsc­haro – oder lieber doch auf den heimischen Belchen?

Den Belchen möchte ich noch einmal sehen, das ist mein Hausberg. Ich habe noch keine Pläne gemacht, aber ich muss sicher erst mal emotional Abstand gewinnen. In den ersten Wochen danach im Schwarzwal­d mal wieder die Gegend intensiver anschauen, Zeit mit der Familie und mit Freunden verbringen – darauf freue ich mich.

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FOTO: LACI PERENYI/IMAGO IMAGES Joachim Löw (links) mit Ilkay Gündogan, einem seiner Führungssp­ieler. Deren Erfahrung, sagt der Bundestrai­ner, tue seiner Mannschaft gut.

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