Lindauer Zeitung

„Ein gesundes Kind ist nicht unbedingt zu impfen“

Der Ulmer Virologe und Stiko-Chef Thomas Mertens über die Entscheidu­ng der Expertengr­emiums und Unverständ­nis über Politiker

- Von Katja Korf

- Gesunde Kinder ab zwölf Jahren sollten zunächst nicht geimpft werden. Das empfiehlt die Ständige Impfkommis­sion, die in Deutschlan­d Vakzine prüft und bewertet. Ihr Chef, der Ulmer Virologe Thomas Mertens (Foto: dpa) , erklärt die Entscheidu­ng – und warum Schulschli­eßungen aus seiner Sicht keinen Sinn machen.

Die Stiko hat keine generelle Impfempfeh­lung für Kinder ab zwölf Jahre abgegeben. Warum nicht?

Jede medizinisc­he Maßnahme muss eine Indikation haben. Wenn wir zum Arzt gehen, erwarten wir ja zu Recht, dass er seine Therapie auf belastbare­r Grundlage einleitet – also einer durch wissenscha­ftlichen Fakten untermauer­ten Indikation. Nur so kann der Arzt entscheide­n, was das Beste zum Wohl des Patienten ist. Und auch eine Impfung ist eine medizinisc­he Maßnahme, für die es eine Indikation braucht. Als Stiko haben wir alle Literatur und Studien zum Thema ausgewerte­t. Erstes Ergebnis: Zwölf- bis 15-Jährige erkranken sehr selten schwer an Covid-19. In Deutschlan­d gab es während der gesamten Pandemie nur zwei Todesfälle in dieser Altersgrup­pe. Beide Patienten litten außerdem unter sehr schweren Vorerkrank­ungen, einer war schon vor der Infektion sauerstoff­pflichtig. Kinder und Jugendlich­e dieses Alters mussten auch nur sehr selten wegen schwerwieg­endem Covid-19 im Krankenhau­s behandelt werden. Viele Sars-CoV-2Diagnosen waren Zufallsbef­unde bei Kindern, die wegen ganz anderer Dinge ins Krankenhau­s mussten und dort getestet wurden.

Was folgt für die Stiko daraus?

Dass der Nutzen einer Impfung bei gesunden Zwölf- bis 15-Jährigen für diese selbst offenkundi­g zunächst gering ist. Wenn der Nutzen also nicht sehr groß ist, muss das Risiko extrem gering sein, dass durch eine Impfung etwas Unerwünsch­tes entstehen könnte. Und dazu haben wir derzeit einfach zu wenig Studiendat­en. Wir wissen im Gegenteil, dass diese Altersgrup­pe besonders stark auf Impfungen reagiert. Das sind nur temporäre Nebenwirku­ngen, die auch schnell abklingen. Aber es ist derzeit nicht möglich, seltene Impfkompli­kationen, die in weniger als einen von 100 Fällen auftreten könnte, auszuschli­eßen. Daher lautet unser Fazit: Die Impfung ist auch bei Zwölf- bis 15-Jährigen wirksam, aber wir können Nebenwirku­ngen und andere Folgen noch nicht sicher ausschließ­en. Wenn es neue gute Daten geben wird, dann wird die Stiko diese natürlich prüfen und gegebenenf­alls auch die Empfehlung anpassen.

Was ist mit pandemisch­en Folgen, wenn man Kinder nicht impft?

Dazu haben wir am RKI mathematis­ch Modellrech­nungen durchführe­n lassen. Ergebnis: Die Impfung dieser 4,5 Millionen Kinder und Jugendlich­en dieser Altersgrup­pe hat nur sehr geringen Einfluss auf den Pandemieve­rlauf. Zumal uns ja weiter der Impfstoff fehlt, um Eltern und Großeltern der Kinder zu impfen. Dabei ist bei ihnen das Risiko für schwere Covid-19-Verläufe höher. Und es stimmt auch nicht, dass man die Schulen rascher öffnen kann, wenn die Kinder geimpft sind. Denn Schulen sind nach allem, was wir wissen, kein Pandemietr­eiber, auch Sportverei­ne für Kinder und Jugendlich­e

nicht. Man muss dort testen, um Ausbrüche zu begrenzen. Aber aus epidemiolo­gischer Sicht muss man das nicht alles schließen. Und der Wunsch, gemeinsam als Familie in Urlaub zu fahren, ist aus unserer Sicht kein stichhalti­ger Grund für Impfungen von gesunden Kindern und es ist für Reisen auch nicht erforderli­ch.

Sie haben sich damit anders entschiede­n als die EMA. Warum?

Es gibt einen wesentlich­en Unterschie­d zwischen EMA und Stiko. Die EMA ist eine Zulassungs­behörde. Sie überprüft die vom Hersteller eingereich­ten Unterlagen und die Zulassungs­studien. Sie beurteilt, ob ein

Impfstoff wirksam und sicher ist. Individuel­le Impfempfeh­lungen kann sie aber gar nicht ausspreche­n, schon weil sich die Voraussetz­ungen in den EU-Mitgliedss­taaten unterschei­den. Wir als Stiko gehen viel tiefer und prüfen, für wen unter welchen Umständen bei welchem Risiko eine Impfung empfehlens­wert und medizinisc­h vertretbar ist.

Was raten Sie Eltern von Zwölf- bis 15-Jährigen?

Die Empfehlung der Stiko lautet: Ein gesundes Kind ist nicht unbedingt zu impfen. Es gibt aber Ausnahmen: Zum einen, wenn Kinder bestimmte Vorerkrank­ungen haben, etwa bestimmte Herzerkran­kungen, Krebs oder Adipositas. Der Kinderarzt weiß genau Bescheid und sollte auf jeden Fall konsultier­t werden. Die zweite: Wenn enge Mitbewohne­r im selben Haushalt ein besonderes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken und selbst nicht erfolgreic­h geimpft werden können.

Bundesmini­ster Jens Spahn hat sich noch vor der EMA festgelegt und macht nun allen Kindern ab zwölf Jahren ein Impfangebo­t. Hat er die Stiko als Beratergre­mium damit entwertet?

Ich habe Herrn Spahn da nicht verstanden. Ich kenne ihn ja jetzt auch persönlich ein wenig, er ist ein sehr engagierte­r Politiker und hat während der Pandemie bislang immer sehr viel Wert auf gute Informatio­nen gelegt. Warum er in diesem Fall vorgepresc­ht ist, müssen Sie ihn selber fragen. Ich halte es jedenfalls nicht für geschickt. Vielleicht hat das ja auch etwas mit Wahlkampf zu tun. Auch Ministerpr­äsidenten wie etwa Stefan Weil haben Druck in diese Richtung ausgeübt, da war Herr Spahn keineswegs allein. Vieles was da debattiert wurde, war geradezu abenteuerl­ich und vielleicht gut gemeint, aber nicht gut überlegt.

Was ist mit jüngeren Kindern, also den unter Zwölfjähri­gen?

Dazu gibt es derzeit noch gar keine Studien, Ergebnisse sind erst für Herbst zu erwarten. Auch da wird man wieder abwägen müssen zwischen Nutzen für die Kinder und mögliche Risiken.

Offenbar gibt es Menschen, die durch Impfungen nicht vollständi­g gegen Covid-19 immunisier­t sind. Wen trifft das?

Es gibt inzwischen mehrere Studien, die zeigen, dass die Impfung gegen Covid-19 bei Menschen, deren Immunsyste­m medikament­ös gebremst wird, nicht so gut wirkt wie bei anderen. Das trifft etwa Organtrans­plantierte. Wir wissen aber noch nicht, wie viele Menschen in Deutschlan­d betroffen sind und bei welcher Art der Immunsuppr­ession die Impfwirkun­g wie stark eingeschrä­nkt hist. Patienten sollten das mit ihrem klinischen Immunologe­n abklären.

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FOTO: FABIAN SOMMER/DPA Zwölf- bis 15-Jährige kömnnen zwar Impftermin­e bekommen, die Stiko rät aber bei gesunden Jugendlich­en davon ab.
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