Lindauer Zeitung

Warten auf das 365-Euro-Ticket für alle

Kosten für billige ÖPNV-Nutzung für jedermann schrecken die Politik ab

- Von Ralf Müller

- In die Welt gesetzt hat die Idee von einem 365-Euro-Jahrestick­et für den Öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV) vor Jahren Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU). Im Koalitions­vertrag zwischen der CSU und den Freien Wählern für Bayern aus dem Jahr 2018 liest es sich vorsichtig: „Für die großen Städte München, Nürnberg/ Fürth/Erlangen, Augsburg, Regensburg, Ingolstadt und Würzburg wollen wir auf Dauer ein 365-Euro-Jahrestick­et einführen“, heißt es darin.

„Auf Dauer“kann dauern. Noch ist das Ticket, das jedem Bürger die Nutzung von Bussen und Bahnen für einen Euro am Tag ermöglicht, noch nirgends in Bayern verwirklic­ht. Selbst dort, wo Grün-Rot regiert, nämlich in der Landeshaup­tstadt München, hat man das 365-Euro-Ticket für Jedermann beim ersten Anlauf gleich auf Eis gelegt – aus Kostengrün­den.

„Auf dem Weg dorthin (zum 365Euro-Ticket, d. Red.) schaffen wir innerhalb der Verkehrsve­rbünde die Voraussetz­ungen für neue Tarifangeb­ote für Jugendlich­e sowie Schülerinn­en und Schüler“, heißt es im Koalitions­vertrag. In dieser Hinsicht ist tatsächlic­h schon einiges passiert, teilte das bayerische Verkehrsmi­nisterium mit. Zum 1. August vergangene­n Jahres wurde ein 365-Euro-Ticket für Schüler und Auszubilde­nde im Großraum Nürnberg sowie in den Verkehrsve­rbünden Mainfranke­n, Regensburg und München eingeführt. Zum 1. August dieses Jahres soll ein solches Angebot in den Großräumen Ingolstadt und Augsburg folgen.

Der Freistaat trage damit zwei Drittel der Mindereinn­ahmen für dieses Tarifangeb­ot an Jugendlich­e und junge Leute, hebt das Verkehrsmi­nisterium hervor. Zusammen sind das seit dem 1. August vergangene­n Jahres bisher 21 Millionen Euro. Das ist freilich ein Bruchteil des Betrages, den ein solches Ticket für alle kosten würde. Der jährliche Mehraufwan­d wird allein für die Stadt München auf wenigstens 110 Millionen Euro geschätzt, wobei die Münchener Verkehrsbe­triebe von einem „Fass ohne Boden“ausgehen. Beträge, welche die grün-rote Münchener Stadtratsm­ehrheit am vergangene­n Mittwoch abschreckt­en: Ausgerechn­et RotGrün

verweigere sich einem wirksamen Beitrag zu mehr Klimaschut­z, triumphier­te die in München opposition­elle CSU. Die Stadtregie­rung lotse den ÖPNV „aufs Abstellgle­is“, sagte CSU-Fraktionsc­hef Manuel Pretzl.

Der Mobilitäts­experte der grünen im Bayerische­n Landtag Markus Büchler nimmt seine kommunalen Parteifreu­nde in Schutz. „Wenn es der Freistaat zahlt, wäre München die letzte Stadt, die es nicht macht“, sagt Büchler. Aber der Kommune die gewaltigen Mindereinn­ahmen allein aufzubrumm­en, sei nicht möglich. Außerdem dürfe ein solches Ticket „aus Gerechtigk­eitsgründe­n“nicht nur den Münchenern zugute kommen. Das bayerische Verkehrsmi­nisterium bestätigte die finanziell­e Zurückhalt­ung des Freistaats: Die Betreiber des ÖPNV seien frei, sich sofort für ein 365-Euro-Ticket für alle zu entscheide­n, „wenn sie die dabei entstehend­en Mindereinn­ahmen selbst tragen“.

Um die vollmundig­en Ankündigun­gen Söders flächendec­kend umzusetzen, müsste der Freistaat dazu tief in die Tasche greifen und mindestens eine Milliarde Euro pro Jahr für den ÖPNV zusätzlich locker machen. Solange aber der Freistaat nicht finanziere, sei es besser, das Geld in den Ausbau von Bussen und Bahnen zu stecken, um der Überlastun­g in den Ballungsrä­umen entgegenzu­steuern, meint der grüne Verkehrsex­perte.

Aber bringt es überhaupt einen ökologisch­en Gewinn, Personengr­uppen mit billigeren Tickets in Busse und Bahnen zu locken, die in der Regel mangels eigenem fahrbaren Untersatz sowieso auf den ÖPNV angewiesen sind? Bayerns CSU-Verkehrsmi­nisterin Kerstin Schreyer und der Grünen-Verkehrsex­perte Büchler bejahen das übereinsti­mmend. Damit können die Jugendlich­en „an den ÖPNV herangefüh­rt“werden sagt Schreyer: „Wer in jungen Jahren gerne mit U-Bahn, Bus oder Zug gefahren ist, wird dies hoffentlic­h auch als Erwachsene­r gerne tun“. Büchler spricht von einem „Einstieg“in ein ökologisch­es Mobilitäts­verhalten, aber auch einen

Schritt zum Abbau von Ungleichhe­iten. Begüterte Eltern müssten zumindest in Ballungsrä­umen ihren Sprößlinge­n zum 18. Geburtstag kein Auto mehr vor die Tür stellen.

„Leider können wir jeden Euro nur einmal ausgeben“, bremst die Verkehrsmi­nisterin die Erwartunge­n an ein Ein-Euro-Ticket für alle. In der Pandemie haben die Verkehrsbe­triebe in Bayern bereits gewaltige Defizite eingefahre­n. Aus einer von Schreyer unlängst vorgelegte­n Mobilitäts­studie ist zudem zu entnehmen, dass nicht alle, die in der Pandemie dem ÖPNV aus Hygienegrü­nden oder wegen der Möglichkei­t des Homeoffice den Rücken gekehrt haben, danach wieder zurückkehr­en werden.

Jetzt will das Verkehrsmi­nisterium erst einmal „genau analysiere­n und evaluieren“, wie das Ticket für Schüler und Azubis angenommen wird, bevor es auf andere Gruppen ausgeweite­t wird. Das 365-Euro-Ticket für alle erklärt Ministerin Schreyer zum „langfristi­gen Ziel des Freistaats Bayern“.

 ?? FOTO: TOBIAS HASE/DPA ?? Noch gibt es das 365-Euro-Jahrestick­et für jedermann noch in keiner bayerische­n Kommune. Die Kosten lassen die Politiker zögern.
FOTO: TOBIAS HASE/DPA Noch gibt es das 365-Euro-Jahrestick­et für jedermann noch in keiner bayerische­n Kommune. Die Kosten lassen die Politiker zögern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany