Sommernacht endet in sexueller Belästigung und Gewalt
Eine alkoholreiche Nacht in Zech, fünf unterschiedliche Geschichten, ein Urteil
- Ein dunkler Weg an den Schrebergärten, nachts um kurz nach drei. Eine Frau geht mit einer Freundin nach einem entspannten Abend zum Taxi, ein Kollege begleitet sie. Da kommt jemand von hinten, der sie einfach umarmt und ihr an die Brüste und den Hintern grapscht. Es kommt zum Streit, der Mann stürzt sich schließlich auf ihren Begleiter. So lautet die Anklage. Verantworten muss sich ein junger Mann aus Lindau. Er ist wegen sexueller Belästigung und gefährlicher Körperverletzung angeklagt, denn er soll nicht nur geschlagen, sondern auch auf den am Boden liegenden Begleiter eingetreten haben. Der junge Mann und sein Freund jedoch schildern das Geschehen völlig anders.
Insgesamt vier Zeugen sollen Richter Moritz von Engel dazu verhelfen, zu erkennen, was wirklich passiert ist. Doch das ist gar nicht so einfach, denn viele Beteiligte hatten an dem Abend getrunken. Dementsprechend unterschiedlich sind die Schilderungen. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe. Es habe ein bisschen Gerangel gegeben, warum genau man gestritten habe, könne er nicht mehr sagen. Warum man ihm so etwas Böses unterstelle, könne er nicht erklären. Überhaupt habe er ja so was gar nicht nötig gehabt. Er und sein Kumpel seien selbst mit Frauen unterwegs gewesen in der Nacht und obendrein habe er damals eine Freundin gehabt.
Die betroffene Frau schildert die Tat im Detail: die aufdringlichen Fragen, das Hinterherlaufen, das unvermittelte Umarmen und Begrapschen an Brüsten und Hintern. „Ich spür das bis heute noch, diese Hand“, erklärt sie. Sie habe den 26-Jährigen weggestoßen, wollte nur weiter Richtung Taxi. Doch der ließ nicht locker, sei sogar der 71-jährigen Freundin durch die Haare gefahren und habe sich den dreien in den Weg gestellt. Als sein Kumpel dazukam, soll er ihrem Begleiter ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen haben. Es folgen weitere Schläge, ihr Begleiter geht zu Boden. Auch der andere habe auf ihn eingeschlagen, sagt sie. Schließlich konnte sie den Angreifer von ihrem Kollegen zerren. Er soll auch versucht haben, sie zu schlagen, doch sie habe sich mit den Armen geschützt, sich gewehrt. Im Lichtkegel des ankommenden Taxis seien die beiden dann geflohen.
Auch die 71-Jährige sagt aus. Sie ist ziemlich aufgeregt. „Ich war wie gelähmt, so was hab’ ich im Leben noch nicht erlebt“, sagt sie. An vieles kann sie sich nicht mehr genau erinnern, stand unter Schock. Dass der Angreifer ihr durch die Haare gestrichen hat, das weiß sie aber noch genau. Viel gesehen hat sie nicht. Nur, dass der Begleiter dann am Boden gelegen habe, die anderen Männer über ihm. In den Details unterscheiden sich manche ihrer Schilderungen von der ersten Zeugin, im Kern bleibt die Beschreibung aber gleich.
Auch der Begleiter, der in der Nacht eine Platzwunde am Auge und mehrere Prellungen und Schürfwunden erlitten hat, schildert den Hergang sehr detailliert. Auch er beschreibt die Faustschläge, das zu Boden gehen. Wer wie auf ihn eingeschlagen habe, könne er nicht genau sagen. Er hielt sich die Arme übers
Gesicht. Aber er habe so viele Schläge gespürt, dass es mehrere Leute gewesen sein müssten. Auch habe, nachdem die Geschädigte den Angeklagten von ihm runtergezerrt habe, dessen Kumpel ihn attackiert. Die beiden Männer kenne er, der Bruder des Angeklagten spielt mit ihm Fußball. Mit den Folgen des Angriffs hatte er noch wochenlang zu kämpfen.
Der Kumpel des Angeklagten ist ebenfalls 26 Jahre alt. Auch gegen ihn ist ermittelt worden – allerdings sei das Verfahren gegen ihn eingestellt worden. Er habe das alles Anfangs gar nicht mitbekommen, es sei für ihn eher ein Gerangel unter Betrunkenen gewesen. Auch sei zunächst der Geschädigte auf dem Angeklagten gewesen, erst danach seien die beiden „irgendwie beide am Boden gewesen“. Der Zeuge schildert alles ruhig und distanziert, aber bei Richter von Engel bleiben Zweifel: „Sie sagen, es gab keine Schläge und Tritte, aber wie erklären sie sich dann die Verletzungen des Geschädigten?“, fragt er nach. Doch so richtig erklären kann es der Zeuge nicht.
Die Staatsanwältin fasst sich in ihrem Plädoyer kurz: Für sie sind die Tatbestände erfüllt. Die Zeugin schildere glaubhaft, was ihr passiert sei, und der Angeklagte habe scheinbar so fest zugetreten, dass er dabei sogar seinen Schuh verloren hat. Sie fordert zehn Monate Haft. Der Verteidiger holt viel weiter aus. sei. Er philosophiert, wie die Auseinandersetzung alternativ abgelaufen sein
Die Geschädigte könnte. Der Geschädigte hätte ja auch nur gestürzt sein können und sich dabei verletzt haben. Dass die Frau in ihren Schilderungen in einzelnen Passagen von ihrer Polizeiaussage abgewichen ist, nimmt er als Anlass, selbst ihre Schilderung des Brustgrapschens infrage zu stellen. Er plädiert auf Freispruch, verstrickt sich aber selbst in Widersprüche: Einerseits trägt er vor, dass es angeblich so dunkel gewesen sei, dass der Begleiter nicht hätte erkennen können sollen, dass der Frau direkt neben ihm an die Brüste gepackt wird, dann aber verlangt er, dass die Geschädigten im Eifer von Gefecht und Adrenalin auf mehrere Meter Abstand erkennen können sollen, wer genau wie gelegen habe.
Richter von Engel folgt in weiten Teilen der Staatsanwaltschaft. In einem Punkt aber gibt er dem Verteidiger recht: Ob die Tritte, so sie denn stattgefunden haben, wirklich so gefährlich waren, dafür findet er keine stichhaltigen Anhaltspunkte. Dass der Angeklagte zugeschlagen und die Geschädigte sexuell belästigt habe, bezweifelt er nicht. Sein Urteil lautet auf sieben Monate Freiheitsentzug, allerdings auf Bewährung. Zudem muss der Angeklagte 3000 Euro Geldstrafe an gemeinnützige Zwecke zahlen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Angeklagte bereits schon einmal wegen Körperverletzung, ebenfalls Faustschläge ins Gesicht, verurteilt ist. „Ihre Faust hat in fremden Gesichtern nichts verloren, ich hoffe, dass Sie das jetzt begriffen haben“, lauten Richter von Engels abschließenden Worte an den Angeklagten.
„Ich spür’ das bis heute
noch, diese Hand...“