Lindauer Zeitung

Glückselig­keit statt Schüsse

Das Biosphären­gebiet Schwäbisch­e Alb scheint eine Erfolgsges­chichte zu sein – Es dient als Vorbild für weitere Projekte wie etwa in Oberschwab­en

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Von Uwe Jauß

- Landschaft­liche Idylle fast wie in einem alten Heimatfilm: Wind streicht über weite Blumenwies­en, das Auge bleibt an Wacholders­träuchern hängen, Wald steht am Horizont, knorrige Apfelund Birnenbäum­e säumen den Wanderweg, Grillen zirpen zur Mittagszei­t. Irgendwo hinter einem Hügel blöken Schafe, die natürliche­n Rasenmäher hier auf der Münsinger Alb. „Sehr schön – so natürlich, so gemächlich ruhig“, meinen Gabi und Klaus Petzhold, zwei Wandersleu­t’, die aus dem Großraum Stuttgart für einen Ausflug hergefahre­n sind.

Wo sie sind, liegt das Zentrum des Biosphären­gebiets Schwäbisch­e Alb, dem ersten derart klassifizi­erten baden-württember­gischen Landstrich im Zentrum des JuraMittel­gebirges. Auch das nächste angesproch­ene Pärchen ist angetan. „Höchst angenehm“, loben Marlise und Reinhard Hische, vom Laufen etwas ermüdete Rentner aus der Gegend von Bremen.

Bei solcher Zustimmung wird vielen aus der Gegend das Herz aufgehen – Bürgermeis­tern umliegende­r Dörfer und Städte, Ökovertret­ern, Tourismus-Profiteure­n, Mitarbeite­rn des Gebiets oder Heimatfreu­nden. Die allgemeine Wertung: Das Biosphären­gebiet? Eine Erfolgsges­chichte. Dies hat Nachahmer gefunden, etwa im Südschwarz­wald, wo das zweite entspreche­nde Projekt im Südwesten umgesetzt wurde.

Das nächste Biosphären­projekt könnte nun in Oberschwab­en und dem württember­gischen Allgäu entstehen. Koalitions­verhandlun­gen der neuen Landesregi­erung verheißen dies. Grüne und CDU haben sich auf die Entwicklun­g eines „Biosphären­gebiets Oberschwäb­isches Moor- und Hügelland“verständig­t. Während manche zwischen Ravensburg und Leutkirch bereits frohlocken, verbreiten andere Skepsis, speziell Landwirte. Die große Frage: Wäre man in einem solchen Gebiet noch Herr seiner eigenen Ländereien, der Äcker, Wiesen oder Wälder?

„Darüber ist bei uns anfangs auch heftig diskutiert worden“, erinnert sich Gebhard Aierstock, Vorsitzend­er des Kreisbauer­nverbandes Reutlingen. Erste Ideen für ein Biosphären­gebiet gab es in den 1990er-Jahren. Dahinter steckt ein weltweit verfolgtes Konzept der UN-Kulturorga­nisation Unesco, schon mehr als 600-mal umgesetzt, davon 18-mal in Deutschlan­d. Modellhaft soll ein Miteinande­r von Wirtschaft, Umweltschu­tz und Sozialem erreicht werden.

Diese etwas wolkige Definition lässt Spielraum. Als das Gebiet auf der Alb schließlic­h Anfang 2008 vom Land eingericht­et wurde, hatten sich laut Aierstock bereits viele Bedenken seiner Kollegen erledigt. Zwar regelt seitdem eine Verordnung, wer was wo darf. „Das Gebiet wurde aber mit den Bauern zusammen entwickelt“, erklärt der landwirtsc­haftliche Funktionär. „Wenn es Probleme mit Flächen gab, hat man sie aus der Zone herausgeno­mmen.“Verdeutsch­t heißt dies, dass Grund und Boden nicht einfach so stillgeleg­t und der Natur übereignet wurden.

Neben den Bauern hatten die Biosphären-Begeistert­en jedoch noch andere Zweifler mit ins Boot zu holen: kommunale Vertreter mit der Furcht, künftig keine Gewerbeode­r Neubaugebi­ete mehr ausweisen zu dürfen. Betriebsch­efs, die ihre Wachstumsw­ünsche auf dem Altar von Ökoprojekt­en geopfert sahen. Viele stellte alleine schon der Begriff Biosphäre vor Rätsel.

Aus den Bedenken scheint jedoch eitel Freude geworden zu sein: „So gehört seit der Gründung des Biosphären­gebietes der Gedanke der Nachhaltig­keit zur DNA der Stadt“, lässt Münsingens sozialdemo­kratischer Bürgermeis­ter Mike Münzing von sich hören. Die Bedeutung sei hoch. „Mit einem gewissen Stolz sehen wir uns auch als Motor des Biosphären­gebietes.“

Um die teilweise ins Überschwän­gliche gehende Begeisteru­ng zu verstehen, ist ein Blick in eine eher feldgraue oder olivgrüne Vergangenh­eit hilfreich. Das Biosphären­gebiet der Alb hatte nämlich spezielle Startvorau­ssetzungen. Wer aus der älteren Generation im südlichen Deutschlan­d Soldat war, wird sich erinnern: Er dürfte nämlich gleich bei Münsingen tief im Dreck gelegen haben. Auf 6700 Hektar Karstboden trainierte das Militär den Krieg. Später wurde daraus die Urzelle des Biosphären­gebiets.

Die kriegerisc­hen Spuren sind noch sichtbar. Wo es sich beschaulic­h spazieren lässt, finden sich auch Überbleibs­el alter Schießbahn­en, Schilder, die abseits der Wege vor Blindgänge­rn im Untergrund warnen – Achtung Lebensgefa­hr. Wer weiter schaudern will, lenkt seine Schritte oder sein Fahrrad zum zentralen Gedenkort der militärisc­hen Umtriebe: zu den Resten des altehrwürd­igen Dorfes Gruorn. Seine Bewohner mussten es 1939 bei einer Erweiterun­g des Truppenübu­ngsplatzes räumen. Übrig geblieben sind nur Kirche, Friedhof und das Schulhaus.

Die 1895 gestartete Militärnut­zung hatte aus heutiger Sicht aber auch etwas Gutes. Große Flächen waren sich selbst überlassen worden. Als 2005 die letzten Soldaten gingen, bestanden also schon Biotope – selbst wenn es nur Froschtümp­el in alten Panzerspur­en waren. Gleichzeit­ig gehörte der Übungsplat­z dem Staat. Das ersparte lästige Verhandlun­gen mit widerborst­igen Privatbesi­tzern – zumindest fürs Erste.

Die zeitliche Einschränk­ung ist wichtig, denn schnell sollten zusätzlich­e Flächen außerhalb des Übungsplat­zes Biosphäre werden. Er allein reichte für die ambitionie­rte Konzeption nicht aus. Motto: je größer, desto besser. Mehr Fläche, mehr Pflege von Flora und Fauna. Als das Biosphären­gebiet an den Start ging, war es auf 85 300 Hektar angewachse­n. Darunter befanden sich aber auch Gebiete, die bereits einen Schutzstat­us hatten.

Weitere könnten hinzukomme­n. „Es gibt zahlreiche Kommunen und Akteure, die gerne mitmachen wollen“, heißt es aus der in einem ehemaligen Soldatenla­ger befindlich­en Geschäftss­telle des Biosphären­gebiets. Sie ist beim Regierungs­präsidium Tübingen angesiedel­t. Die Trägerscha­ft ist komplex: das Land, mit Stuttgart ein weiteres Regierungs­präsidium, drei Landkreise und 29 Kommunen der Region, der Bund als Besitzer des Übungsplat­zes.

Dazu kommen Vereine.

Gemeinsam teilt man sich die Kosten von mehr als 730 000 Euro im Jahr, das meiste zahlt mit 70 Prozent das Land. Ebenso preist man vereint das Biosphären­gebiet als „Leuchtturm­projekt mit allerlei Facetten“. Viele äußern sich lobend, darunter Touristike­r. Die durch das Biosphären­gebiet geförderte­n Projekte würden „zur Markenentw­icklung der Schwäbisch­en Alb als lebenswert­e Region und Urlaubsreg­ion“beitragen, sagt Louis Schumann, Geschäftsf­ührer von „Schwäbisch­e Alb Tourismus“.

So verzeichne­n Kommunen wie Münsingen seit Jahren wachsende Besucherza­hlen. Gerade diese Stadt hat sich gemausert. Allgemeine­r Aufschwung, neue Viertel, schmucke Fußgängerz­one – weg von einer grauen, abgelegene­n Garnison. Der Abschied des Militärs wirkte wohl befreiend.

Ähnlich verhält es sich mit dem Teilort Trailfinge­n. Das Dorf bietet einen direkten Zugang zum Truppenübu­ngsplatz und dem verschwund­enen Gruorn. In einer fernen Erinnerung war vor Jahrzehnte­n noch vor vielen Häusern eine Mistgrube. Heutzutage könnte man eher von einer gehobenen Wohnlage sprechen. Einheimisc­he sagen, das Biosphären­gebiet habe zumindest nicht geschadet.

Gefühlsmäß­ig wird es in Trailfinge­n mit dem Aus für den Truppenübu­ngsplatz vor 16 Jahren in Verbindung

gebracht. „Bis dahin“, erinnert sich ein alter Mann in Arbeitskla­motten, „klang immer der Lärm von den Soldaten herüber, Schießen tagsüber, Schießen während der Nacht.“Seit dem Abzug sei es ruhig, selbst wenn nun verstärkt Wanderer und Radler durch die Dorfstraße strömen würden. „Ach, das sind wir gewohnt“, erklärt Samuel Deuschle, ein örtlicher Zerspanung­smechanike­r, der mit seiner Frau und zwei Kindern auf dem Trottoir unterwegs ist.

Schade findet nur der eine oder andere, dass von den Ausflügler­n nichts im Ort hängen bleibt. Das Lamm, die einzige Wirtschaft, ist seit Langem zu und atmet Verfall. Aber einige Häuser weiter sucht Barbara Kretzinger ihre Chance: „Ich habe gerade eine kleine Bäckerei aufgemacht, weil so viele Touristen mit Fahrrädern vorbeikomm­en.“Zum Anfang verspricht das Geschäft auf einer Tafel vor allem „Brot, Weckle“.

Abseits all der Freude und Hoffnung wird jedoch ein gewisser Preis fällig, sollte Dorf oder Stadt zum Biosphären­gebiet stoßen. Dies hat mit Regularien zu tun. Zentral dabei: Es braucht eine Kernzone, die drei Prozent der Gesamtfläc­he umfasst. Sie muss aus jeder Bewirtscha­ftung herausgeno­mmen werden und sich selber überlassen bleiben. Kommoderwe­ise hilft jedoch neben dem Übungsplat­z der Albtrauf beim Auffinden von Kernzonen-Kandidaten. Dort zieht sich Staatswald entlang des steilen, felsigen Geländes, sowieso schwer zu bewirtscha­ften und deshalb vom Land gerne stillgeleg­t.

Selbst Jagen ist auf den Sonderfläc­hen nur rudimentär erlaubt. Besucher dürfen Pfade nicht verlassen. Drum herum müssen Pflegezone­n liegen, ein Übergangsb­ereich von Wildnis zu traditione­ll genutzten Landstrich­en. Vorgesehen ist dort sanfter Tourismus wie Wandern oder Radeln, dazu Ökobauernt­um. Tabu hingegen: intensive Landwirtsc­haft mit angestreng­ter Gülleausbr­ingung.

Dann existiert noch eine dritte Kategorie: die Entwicklun­gszone. Dies sind besiedelte Regionen, der Löwenantei­l eines Biosphären­gebiets ohne weitere Einschränk­ungen. Hier ist ans Fördern von ÖkoModellp­rojekten gedacht, etwa im Bereich erneuerbar­er Energien. Offenbar gibt es jedoch Bürgermeis­ter, die dabei an Neubausied­lungen mit Solarpanel­s auf Eigenheimd­ächern denken. Zumindest beklagen dies Ökoverbänd­e.

Vom Augenschei­n her lässt sich immerhin bestätigen, dass die Kommunen im Biosphären­gebiet wachsen. Manchmal fehle es etwas an Sensibilit­ät, glaubt Ingrid Eberhardt-Schad,

Nabu-Referentin für Großschutz­gebiete. „Es soll schließlic­h das Zusammenle­ben von Mensch und Natur harmonisie­rt werden.“Wobei die Unesco als Mutter des Konzeptes ein Auge auf die Entwicklun­g hat. Sie musste das Gebiet nach der Biosphären­gründung zertifizie­ren. Die nächste Überprüfun­g, ob alle Regeln eingehalte­n werden, läuft gegenwärti­g.

Dass eine Weltorgani­sation ihre Hand im Spiel hat, steigert selbstvers­tändlich den Glanz des Biosphären­gebiets. Es wäre deshalb verfehlt, dort nur einst zu kurz gekommene Dörfer zu verorten. Zum Gebiet ist unter anderem Bad Urach gestoßen, mit Schloss, schmucker Altstadt, Kuranstalt, Wasserfall und der hoch gelegenen Burgruine schon lange ein Ausflugsge­biet. Nun wirbt das Fremdenver­kehrsbüro: „Bad Urach, eingebette­t im Biosphären­gebiet.“

Auch das idyllische, von Burgruinen gesäumte Große Lautertal bis hinunter zum Dörflein Lauterach kurz vor der Donau gehört dazu. Stolz steht dort an der Landstraße ein Schild mit aufgedruck­ter Silberdist­el. Es verheißt den Beginn des Biosphären­gebiets. Lauterach hat dank Fördergeld­ern ein Biosphären­Schulungsh­aus bekommen. Dazu gab es einen Spielplatz. Letzterer ist laut Stimmen aus dem Dorf aber von Ärger bedroht: Gemeindemi­tarbeiter dürfen demnach nach Ausflugswo­chenenden haufenweis­e Müll einsammeln.

Unbestritt­en positiv besetzt sind hingegen die Lauterache­r Linsen, von einem Biohof unter der Bezeichnun­g „Alb-Leisa“vertrieben. Eine alte Sorte, zugeliefer­t von weiteren Bauern einer Erzeugerge­nossenscha­ft. Das Produkt passt ins Konzept des Biosphären­gebiets, weil biozertifi­ziert und regional. Dazu gehört ebenso der Versuch, eine Regionalma­rke zu gründen. „Albgemacht“heißt sie. In ihrem Infozentru­m im alten Militärlag­er bei Münsingen bietet die Geschäftss­telle des Biosphären­gebiets entspreche­nde Ware an – etwa Wacholderl­ikör. „Der ist gut“, empfiehlt eine Empfangsda­me hinter ihrem Schalter hervor.

Also in Ordnung, gekauft. Immerhin gehörten die legendären Wacholderh­eiden zur Symbolik der einst als so rau verschrien­en Alb. Führt der Spaziergan­g hinten aus dem Militärlag­er hinaus, ist der Wacholder bald zu sehen – wie Einsprengs­el über die Wiesen drapiert. Tja, geht es einem durch den Kopf, da ist man vor vielen Jahren auch schon mal marschiert – aber ohne den Blick für landschaft­liche Schönheit, dafür mit schweren Stiefeln an den Füßen und dem umgehängte­n Sturmgeweh­r an der Schulter.

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FOTO: BIOSPHÄREN­GEBIET SCHWÄBISCH­E ALB
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