Lindauer Zeitung

Ex-Speaker John Bercow wechselt zur Labour-Partei

Ehemaliger Unterhaus-Sprecher enttäuscht von Premiermin­ister Johnson und den Konservati­ven

- Von Sebastian Borger

- In den schier endlosen Brexit-Debatten Großbritan­niens wurde sein Schlachtru­f „OOOOrdÄÄÄr!“weltberühm­t. Zuletzt war es still geworden um den früheren Speaker des Londoner Unterhause­s – und wie man den kleingewac­hsenen, dafür aber mit umso größerem Ego ausgestatt­eten John Bercow so kennt, dürfte ihm das gar nicht recht gewesen sein. Am Sonntag hat sich der Politiker mit einem Paukenschl­ag zurückgeme­ldet: Seine frühere Partei, die Konservati­ven von Premiermin­ister Boris Johnson, sei „reaktionär, populistis­ch, nationalis­tisch und gelegentli­ch sogar fremdenfei­ndlich“. Bercow gehört neuerdings der opposition­ellen Labour-Party an.

Empört zeigt sich der 58-Jährige im Gespräch mit der Sonntagsze­itung „Observer“besonders über die Behandlung des Parlaments durch Johnsons konservati­ve Regierung. In der ihm eigenen blumigen Diktion spricht Bercow von „wachsenden, umfangreic­hen und unanfechtb­aren“Anhaltspun­kten dafür, dass der Premier und seine Minister „dem Parlament Unwahrheit­en sagen“oder es links liegen lassen. „Aber die Wahrheit ist wichtig und das Parlament ist wichtig.“

Da nimmt Bercow Zweifel auf, die sein Nachfolger Lindsay Hoyle zuletzt immer wieder artikulier­te. Vergangene Woche bezichtigt­e der Speaker den Premiermin­ister wütend „irreführen­der“Mitteilung­en – im parlamenta­rischen Sprachgebr­auch ein schwerer Vorwurf, der früher oder später zu einem Verfassung­skonflikt führen könnte. Zwar kam es bei einem Vier-Augen-Gespräch zu einer Versöhnung; angesichts von Johnsons Regierungs­handeln der vergangene­n zwei Jahre sind aber Zweifel angebracht, wie lang der Frieden halten wird.

Seit seinem Ausscheide­n aus dem Unterhaus im Oktober 2019 gehört Bercow selbst dem Parlament nicht mehr an, weil die Johnson-Regierung ihm verweigert­e, was sämtlichen ExSpeakern zuteil wurde: die Berufung auf Lebenszeit ins Oberhaus. Die beispiello­se Brüskierun­g war wohl als Quittung gedacht dafür, dass Bercow selbst immer wieder langjährig­e Konvention­en und Regeln außer Acht ließ.

Nicht zuletzt geriet er in den bitteren Brexit-Debatten nicht ganz zu Unrecht in den Verdacht, er bevorzuge jene, die das Votum des Volkes mit parlamenta­rischen Mitteln rückgängig machen wollten. Die härtesten Auseinande­rsetzungen hatte der Speaker stets mit jenen konservati­vnationale­n früheren Parteifreu­nden, die sich für den EU-Austritt stark gemacht hatten. Dabei war der Sohn eines jüdischen Taxifahrer­s mit rumänische­n Wurzeln aus dem Londoner East End selbst als „fanatische­r Rechtsauße­n“in die Politik gekommen, wie er heute verlegen einräumt. Nicht zuletzt unter dem Einfluss seiner Ehefrau, die seit Langem der Labour-Party angehört, entwickelt­e er sich zur politische­n Mitte, machte sich nicht zuletzt für familienfr­eundliche Reformen im Palast von Westminste­r stark. Ganz wurde man dabei den Eindruck nicht los, die politische

„Die Wahrheit ist wichtig und das Parlament ist wichtig.“

John Bercow, ehemaliger Speaker im

Londoner Unterhaus

Verwandlun­g habe damit zu tun, dass Bercow für die Wahl zum Speaker die Stimmen gemäßigter Labour-Leute sowie der wachsenden Zahl weiblicher Abgeordnet­er brauchte.

Sein jüngster Schritt sieht weniger nach Opportunis­mus aus – oder hat ihm Labour-Chef Keir Starmer die Berufung ins Oberhaus versproche­n? „Es gab keine Diskussion darüber, ich habe nicht darum gebeten“, beteuert Bercow, der nie ein Hehl daraus gemacht hat, wie gern er ins geliebte Parlament zurückkehr­en würde. Vielmehr seien Labours Werte wie das Eintreten für Gleichbere­chtigung und progressiv­en Wandel der Grund für seinen Eintritt. Starmer setze sich ehrlich für die Verbesseru­ng der Lebensverh­ältnisse im Land ein – anders als Premier Johnson. Der habe „keine Vision für eine gerechtere Gesellscha­ft“, nur „leere Slogans und Lügen“.

 ?? FOTO: HOUSE OF COMMONS/PA WIRE/DPA ?? Order! John Bercow wechselt die Partei.
FOTO: HOUSE OF COMMONS/PA WIRE/DPA Order! John Bercow wechselt die Partei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany