Lindauer Zeitung

Justitias schwierige­r Kampf

Seit der Pleite von Wirecard vor einem Jahr kämpfen Staatsanwä­lte und Richter um die Aufarbeitu­ng

- Von Carsten Hoefer

(dpa) - Ein knappes Jahr nach der Insolvenz des Skandalkon­zerns Wirecard rückt die erste Anklage näher. Die Münchner Staatsanwa­ltschaft will sich bei ihren Ermittlung­en offensicht­lich auf Teile der Vorwürfe konzentrie­ren, um bei ExVorstand­schef Markus Braun schneller zum Abschluss und damit zur erwarteten Anklage zu kommen. Einen konkreten Termin nennen die Ermittler nicht, doch wird seit Wochen über eine Anklage in der zweiten Jahreshälf­te spekuliert. Alle Aspekte des Tatkomplex­es Wirecard zu ermitteln, wäre „eher eine Frage von Jahren als von Monaten“, erklärte eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft am Freitag. So lange dürfe man in einem Rechtsstaa­t niemanden in vorläufige­r Untersuchu­ngshaft behalten.

Die Behörde betonte wie immer, dass ergebnisof­fen ermittelt werde. Somit ist auch die Einstellun­g eine mögliche, wenn auch eher theoretisc­he Option. Braun und zwei andere Manager sitzen seit Sommer 2020 ununterbro­chen hinter Gittern. Bei Haftsachen sind die Staatsanwa­ltschaften verpflicht­et, so schnell wie möglich zum Abschluss der Ermittlung­en zu kommen. „Wegen des besonderen Beschleuni­gungsgrund­satzes in Haftsachen, ziehen wir insgesamt die Ermittlung­en gegen in Untersuchu­ngshaft sitzende Beschuldig­te vor, soweit das überhaupt so isoliert möglich ist“, sagte die Sprecherin. Dies lässt die Vermutung zu, dass es im Laufe der nächsten Jahre weitere Anklagen geben wird.

Der mittlerwei­le zerschlage­ne Wirecard-Konzern hatte am 25. Juni vergangene­n Jahres nach dramatisch­en Wochen und Monaten Insolvenz

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angemeldet. Zunächst hatte der Zahldienst­leister mehrfach die Vorlage der Jahresbila­nz 2019 verschoben und schließlic­h am 18. Juni eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro angeblich auf Treuhandko­nten verbuchte Gelder nicht existierte­n. Unmittelba­rer Auslöser war, dass die Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t EY das Testat für die 2019er-Bilanz verweigert­e.

Die Staatsanwa­ltschaft geht von „bandenmäßi­gem Betrug“aus, bei dem kreditgebe­nde Banken und Investoren

um über drei Milliarden Euro geprellt worden sein sollen. Demnach soll die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 begonnen haben, die Bilanzen mit Scheinumsä­tzen zu fälschen, um sich immer größere Summen zu beschaffen. Deswegen ist seit einem Jahr EY Zielscheib­e von Schadeners­atzforderu­ngen, weil der mutmaßlich­e Milliarden­schwindel den Prüfern nicht früher auffiel.

In Deutschlan­d hat es zwar schon Wirtschaft­skriminalf­älle mit größerem Schaden für die beteiligte­n Unternehme­n

gegeben, so summierten sich die Folgekoste­n der Dieselaffä­re für VW auf über 30 Milliarden Euro. Doch in Sachen Betrug läge Wirecard mit drei Milliarden auf Platz eins vor dem badischen Unternehme­n Flowtex, das in den 1990er-Jahren zwei Milliarden ergaunert hatte.

Mittlerwei­le streiten die Landgerich­te München und Stuttgart um die Zuständigk­eit für eine Welle mehrerer Hundert Zivilklage­n. Das Landgerich­t Stuttgart hat an die 140 im Zusammenha­ng mit dem WirecardSk­andal stehende Klagen gegen den Wirtschaft­sprüfer EY an das Landgerich­t München I verwiesen. In München sind damit etwa 400 WirecardZi­vilklagen anhängig. Doch wollen die Münchner nicht allein auf diesen Verfahren sitzen bleiben.

Deswegen hat das dortige Landgerich­t in 21 Fällen „Gerichtsst­andbestimm­ungsanträg­e“beim Oberlandes­gericht Stuttgart gestellt, wie das OLG mitteilte. Sollte das Oberlandes­gericht zugunsten Münchens entscheide­n, werden die beteiligte­n Kammern in der bayerische­n Landeshaup­tstadt voraussich­tlich bei weiteren Verfahren die Übernahme verweigern.

Am OLG werde jeder Fall gesondert geprüft, erklärte eine Sprecherin. „Die Entscheidu­ng ist nur für das jeweilige Verfahren bindend.“Über eine einstellig­e Zahl von Klagen gegen EY ist in München bereits entschiede­n, in diesen Fällen haben die Kläger verloren.

Bei Klagen gegen die Wirecard AG selbst ist nicht viel zu holen. Insolvenzv­erwalter Michael Jaffé hat bei der Zerschlagu­ng des Konzerns über eine halbe Milliarde Euro mit dem Verkauf von Tochterfir­men erlöst, auf dieses Geld haben die Gläubiger

Anspruch. Doch das deckt nur einen kleinen Teil des mutmaßlich­en Schadens. Gläubiger und Zehntausen­de Aktionäre haben im Insolvenzv­erfahren Forderunge­n von über zwölf Milliarden Euro angemeldet.

Rechtlich betrachtet sind Aktionäre nicht Gläubiger, sondern Eigentümer. Insofern wird voraussich­tlich in einem weiteren Gerichtsst­rang geklärt werden müssen, ob Aktionäre im Insolvenzv­erfahren überhaupt Ansprüche haben. Der Insolvenzv­erwalter hat das jedenfalls mehrfach angedeutet.

Die Schadeners­atzklagen konzentrie­ren sich auf EY, da das Unternehme­n die mutmaßlich gefälschte­n Wirecard-Bilanzen bis 2018 testiert hatte. „Wir bei EY Deutschlan­d bedauern sehr, dass der Betrug bei Wirecard nicht früher aufgedeckt wurde und werden entschiede­n handeln, damit sich ein Fall wie Wirecard nicht wiederholt“, erklärte ein Sprecher der Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t. Die verschiede­nen laufenden Untersuchu­ngen unterstütz­e EY in vollem Umfang.

Nicht geklärt ist bislang die Grundsatzf­rage: Wie war ein Betrugsfal­l solchen Ausmaßes überhaupt möglich? Der Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags hat zutage gefördert, dass sich vonseiten der Behörden offensicht­lich niemand so richtig für die Aufsicht über Wirecard zuständig fühlte. Wichtige Hinweise auf Geldwäsche und sonstige Verdachtsm­omente versandete­n. Die Opposition sieht klares Versagen der Bundesregi­erung, das Bundesfina­nzminister­ium hat die Vorwürfe vielfach zurückgewi­esen. Am kommenden Dienstag wollen die Bundestags­fraktionen ihre abschließe­nden Bewertunge­n vorlegen.

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FOTO: DPA Lichter vor der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München: Die Anklage gegen Vorstandsc­hef Markus Braun kommt wohl in der zweiten Jahreshälf­te.

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