Lindauer Zeitung

Als das Gewissen noch geprüft wurde

Graphic Novel über die Nöte der Kriegsdien­stverweige­rer in den 1970er-Jahren

- Von Dieter Sell

Die umstritten­en Gewissensp­rüfungen von Kriegsdien­stverweige­rern gehören zur deutschen Nachkriegs­historie. Die 1990 geborene Comiczeich­nerin Hannah Brinkmann zeigt in Bildern, was auf dramatisch­e Weise auch Teil ihrer eigenen Familienge­schichte ist.

Ein schlanker junger Mann steht vor einer Kaserne. Den rechten Arm streckt er nach oben, die Hand ist in der Tradition der Hippie-Kultur zum Peace-Zeichen geformt. Der Blick scheint fest nach vorne gerichtet und verrät doch Unsicherhe­it. Die Geste von Hermann Brinkmann 1973 vor der Evenburg-Kaserne im ostfriesis­chen Leer mutet an wie ein Abschied. Und irgendwie ist sie es auch. Wenig später lebt der 19-jährige Kriegsdien­stverweige­rer nicht mehr.

Brinkmann begeht Suizid, nachdem seine Kriegsdien­stverweige­rung (KDV) aus Gewissensg­ründen abgewiesen wird. „Tod durch Starkstrom“, schreibt seine Familie aus dem niedersäch­sischen Lindern in einer Todesanzei­ge, die in der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“erscheint. Und auch: „19 Jahre hat er unser Leben bereichert. Mit großer Sensibilit­ät ausgestatt­et sah er das Unrecht und nannte es beim Namen, spürte er die Hilfsbedür­ftigkeit, half und war immer seinem Gewissen verpflicht­et.“Darunter der Hinweis „Depression durch den Zwang zum Waffendien­st“.

Der Suizid des überzeugte­n Pazifisten machte in den 1970er-Jahren bundesweit Schlagzeil­en und löste eine Debatte über die Rechtmäßig­keit der dreistufig­en Gewissensp­rüfung von Kriegsdien­stverweige­rern aus. Brinkmanns Nichte Hannah hat die Geschichte ihres Onkels nach mehrjährig­er Recherche in einer Graphic Novel verarbeite­t. „Es fing alles mit der Todesanzei­ge an, die ich im Wohnzimmer­schrank meiner verstorben­en Großmutter fand“, berichtet die Hamburger Comickünst­lerin in einer Buchvorste­llung und Lesung.

„Gegen mein Gewissen“lautet der Titel der grafischen Erzählung, die Brinkmann akribisch in Archiven, Zeitungsar­tikeln und in der Familienge­schichte recherchie­rt hat. Bei der Bundeswehr jedoch habe sie mit ihren Anfragen keinen Erfolg gehabt. „Da gingen sofort alle roten Lampen an. In die Kaserne in Leer reinzukomm­en, das kam nicht infrage“, erzählt Brinkmann, die ihren Onkel selbst nicht mehr kennenlern­en durfte.

Die 1956 neu gegründete Bundeswehr verpflicht­ete Generation­en junger Männer zum Dienst an der Waffe. Allerdings sah das Grundgeset­z vor, dass man aufgrund von Gewissensn­öten den Wehrdienst verweigern konnte. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdien­st mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgese­tz“,

heißt es in Artikel 4, Absatz 3. Comiczeich­nerin Brinkmann illustrier­t in teils trancearti­g-bedrückend­en Bildern, unter welchem Druck diese Gewissensn­öte bewiesen werden mussten. Viele Antragstel­ler scheiterte­n vor einem Prüfungsau­sschuss, der in den Kreiswehre­rsatzämter­n

der Bundeswehr zusammenka­m. Waren es bei Einführung der Wehrpflich­t noch 262 Kriegsdien­stverweige­rer, stieg die Zahl der Anträge im Jahr 1973 bereits auf knapp 32 900. 2010, kurz vor Aufhebung der Wehrpflich­t, waren es 130 000, wie aus einer Dokumentat­ion

der mittlerwei­le aufgelöste­n Bremer Zentralste­lle für Recht und Schutz der Kriegsdien­stverweige­rer aus Gewissensg­ründen hervorgeht.

„Hunderttau­sendfach wurden in Prüfungsve­rfahren Kriegsdien­stverweige­rer zu Unrecht abgelehnt, Zehntausen­de wurden gegen ihr Gewissen zum Waffendien­st gezwungen“, bilanziert Peter Tobiassen, langjährig­er Geschäftsf­ührer der Zentralste­lle. „Tausende gingen daraufhin ins Exil nach Westberlin, bis 1989 ohne Wehrpflich­t, oder ins Ausland. Einige, wie Hermann Brinkmann, verzweifel­ten an den Fehlentsch­eidungen der Wehrbehörd­en so sehr, dass sie nicht mehr weiterlebe­n konnten.“

Wie inquisitor­isch das Gewissen geprüft wurde, recherchie­rte Brinkmann anhand des „KDV-Fragenkata­logs“, den es zur Vorbereitu­ng auf das Verfahren bei Unterstütz­er-Organisati­onen von Kriegsdien­stverweige­rern gab. Darin finden sich Fragen wie „Was machen Sie, wenn ein Russe Ihre Mutter bedroht und Sie haben eine Waffe dabei?“Oder das Nachhaken des Vorsitzend­en des Prüfungsau­sschusses in der Graphic Novel: „Sagen Sie, Herr Brinkmann, sind Sie Autofahrer? Auf den Straßen der Bundesrepu­blik verunglück­en jährlich beinahe eine halbe Million Menschen. Dürfen Sie als Pazifist da überhaupt Auto fahren?“

Mit der Aussetzung der Wehrpflich­t Mitte 2011 endete vorläufig die unwürdige Überprüfun­g derjenigen, die gegen ihr Gewissen zum Kriegsdien­st mit der Waffe einberufen werden sollten. „Seit diesem Datum brauchen jährlich viele Zehntausen­de junge Männer nicht mehr mit der Angst zu leben, gegen ihren Willen eingezogen zu werden“, betont Wolfgang Buff, einer der Sprecher der Evangelisc­hen Arbeitsgem­einschaft für KDV und Frieden.

Und doch gibt es in Deutschlan­d immer noch Kriegsdien­stverweige­rer, die ihre Gewissensn­öte darstellen müssen, meist Zeit- und Berufssold­atinnen und -soldaten, auch Reserviste­n. Sie wolle mit ihrer Arbeit Bewusstsei­n schaffen, damit klarwerde, dass man für seine Rechte eintreten müsse, sagt Brinkmann. Sie habe nach Veröffentl­ichung der Graphic Novel viele Zuschrifte­n von Männern bekommen, die ihre eigene Verweigeru­ngsgeschic­hte erzählten: „Das berührt mich wahnsinnig. Ich glaube, dass es wichtig ist, Geschichte neu zu erzählen und zu reflektier­en.“

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen, Avant-Verlag, 232 Seiten, 30 Euro.

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