Lindauer Zeitung

Die perfekte Welle

Mit ihrem rauschende­n Fußballfes­t gegen Portugal erfüllt die Nationalma­nnschaft die große Sehnsucht der Fans

- Von Patrick Strasser

- „Oh, wie ist das schön! So was hat man lange nicht gesehen ...“– hallte es durch das weite, zu etwa einem Fünftel gefüllte Rund in der „Fußball Arena München“. Während die Fans das 4:2 im zweiten EMGruppens­piel gegen Portugal feierten, freuten sich die Sieger des Tages über ein emotionale­s Wiedersehe­n nach Abpfiff. Joshua Kimmich und Toni Kroos umarmten ihre Partnerinn­en und herzten ihre Kinder. Endlich wieder drücken. Nicht nur virtuell, wenn man das Handy drückt.

„Der Abschied damals vor Seefeld tat weh“, sagte Bayern-Profi Kimmich mit Blick auf den Vorbereitu­ngsstart der deutschen Nationalel­f am 28. Mai. „Jetzt sind es drei Wochen. Natürlich gibt es heutzutage Facetime und all das Drum und Dran. Aber es ist schon schwierig. Ich bin ein Familienme­nsch. Die eigenen Kinder, die Familie, die vermisst man schon.“Für einen Moment war die DFB-Blase vergessen. Auch die Corona-Schutzmaßn­ahmen? „Das geht an der freien Natur. Alle sind getestet, alle haben Masken auf. Das war ja alles coronakonf­orm“, entgegnete Kimmich, der mit seiner Partnerin Lina Meyer zwei Kinder hat. Den emotionale­n Zwiespalt der Nationalsp­ieler fasste Kimmich so zusammen: „Ich hoffe, dass ich sie noch ein paar Wochen vermissen werde.“Bis zum 12. Juli maximal, dem Tag nach dem Finale.

Vor Samstag hätte man unken können, dass der Familienur­laub bereits ab Donnerstag, dem Tag nach Ende der Vorrunde, starten könnte.

Doch das leidenscha­ftliche 4:2 gegen den Titelverte­idiger bedeutete: Bestätigun­g, Genugtuung und das gute Gefühl, im Turnier angekommen zu sein. Das 0:1 gegen Weltmeiste­r Frankreich war keinesfall­s ein Totalschad­en, aber verursacht­e doch eine Bürde, die man einige Tage mit sich herumschle­ppte. Obwohl die DFBElf gegen Frankreich knapp, aber verdient verlor, hatte sie in Spiel zwei in München sogar noch mehr zu verlieren. Was in solchen Fällen zweierlei Konsequenz­en hervorrufe­n kann: Lähmung oder Explosion.

Es wurde ein spielerisc­hes Feuerwerk, eine gruppendyn­amische Befreiung – angeführt von Matchwinne­r Robin Gosens, der an drei Treffern

beteiligt war. Das Team von Bundestrai­ner Joachim Löw schmiss den EM-Rucksack, bis an den Rand gefüllt mit externem Druck und eigenen Erwartunge­n, im hohen Bogen von sich. Gegen Frankreich lief man wie gegen eine Mauer, dazu kam die geistige Blockade. Vieles wirkte schwerfäll­ig, nun dürfte sich alles leichter anfühlen. Weil man trotz einer wegen Abseits aberkannte­n Führung (auch Gosens) und trotz eines Rückstande­s durch das vermeidbar­e Kontertor von Cristiano Ronaldo nicht zu lange zu sehr haderte oder gar verzweifel­te, sondern sich selbst aus der Misere herauszog. Doppelt wichtig für die Psyche: Widerständ­e wurden überwunden. „Es war wichtig für uns, dass wir nach dem verlorenen Spiel gegen Frankreich nicht alles über den Haufen werfen, sondern bei unserer Linie bleiben“, erklärte Kai Havertz, der ein Tor beisteuert­e und ein Eigentor erzwang.

Jetzt, da man im DFB-Lager hofft, dank des fünften Sieges im fünften Turnierspi­el gegen Lieblingsg­egner Portugal die perfekte Welle erwischt zu haben, geht der Blick nach vorne. Das 4:2 soll ein Knotenlöse­r sein – und ja keine Eintagsfli­ege. „Man darf so eine kleine Euphorie auch ein bisschen spüren, aber wir müssen auch sachlich bleiben“, betonte Müller, der Emotionen einer Mannschaft so gut deuten kann wie freie Räume und forderte: „Jetzt dürfen wir nicht überdrehen, wir haben die Ungarn gesehen.“Und deren völlig unerwartet­es 1:1 gegen Frankreich. Löw betonte, „Schritt für Schritt vorankomme­n“zu wollen und warnte vor den defensiv eingestell­ten Ungarn, die selbst noch die Chance aufs Achtelfina­le haben: „Das nächste Spiel wird noch zäher, weil sie mit acht, neun Mann verteidige­n.“

Dass man ein ganz anderes Gesicht als im Auftaktspi­el gezeigt hat und – bis auf die teils haarsträub­ende Verteidigu­ng von gegnerisch­en Standardsi­tuationen – der Lerneffekt sichtbar ist, macht diese Mannschaft wieder zu einem der Titelfavor­iten. Besser ist doch: Sich steigern können als eine zu frühe Frühform haben. „Diejenigen, die die ersten zwei Spiele perfekt spielen und bei denen alles rund läuft, haben in den seltensten Fällen das Turnier gewinnen können“, meinte Löw und schickte damit freundlich­e Grüße nach Italien.

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FOTO: SCHUELER/IMAGO IMAGES Joshua Kimmich (vorn) und Co. sorgen für Turnierspa­ß.

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