Die perfekte Welle
Mit ihrem rauschenden Fußballfest gegen Portugal erfüllt die Nationalmannschaft die große Sehnsucht der Fans
- „Oh, wie ist das schön! So was hat man lange nicht gesehen ...“– hallte es durch das weite, zu etwa einem Fünftel gefüllte Rund in der „Fußball Arena München“. Während die Fans das 4:2 im zweiten EMGruppenspiel gegen Portugal feierten, freuten sich die Sieger des Tages über ein emotionales Wiedersehen nach Abpfiff. Joshua Kimmich und Toni Kroos umarmten ihre Partnerinnen und herzten ihre Kinder. Endlich wieder drücken. Nicht nur virtuell, wenn man das Handy drückt.
„Der Abschied damals vor Seefeld tat weh“, sagte Bayern-Profi Kimmich mit Blick auf den Vorbereitungsstart der deutschen Nationalelf am 28. Mai. „Jetzt sind es drei Wochen. Natürlich gibt es heutzutage Facetime und all das Drum und Dran. Aber es ist schon schwierig. Ich bin ein Familienmensch. Die eigenen Kinder, die Familie, die vermisst man schon.“Für einen Moment war die DFB-Blase vergessen. Auch die Corona-Schutzmaßnahmen? „Das geht an der freien Natur. Alle sind getestet, alle haben Masken auf. Das war ja alles coronakonform“, entgegnete Kimmich, der mit seiner Partnerin Lina Meyer zwei Kinder hat. Den emotionalen Zwiespalt der Nationalspieler fasste Kimmich so zusammen: „Ich hoffe, dass ich sie noch ein paar Wochen vermissen werde.“Bis zum 12. Juli maximal, dem Tag nach dem Finale.
Vor Samstag hätte man unken können, dass der Familienurlaub bereits ab Donnerstag, dem Tag nach Ende der Vorrunde, starten könnte.
Doch das leidenschaftliche 4:2 gegen den Titelverteidiger bedeutete: Bestätigung, Genugtuung und das gute Gefühl, im Turnier angekommen zu sein. Das 0:1 gegen Weltmeister Frankreich war keinesfalls ein Totalschaden, aber verursachte doch eine Bürde, die man einige Tage mit sich herumschleppte. Obwohl die DFBElf gegen Frankreich knapp, aber verdient verlor, hatte sie in Spiel zwei in München sogar noch mehr zu verlieren. Was in solchen Fällen zweierlei Konsequenzen hervorrufen kann: Lähmung oder Explosion.
Es wurde ein spielerisches Feuerwerk, eine gruppendynamische Befreiung – angeführt von Matchwinner Robin Gosens, der an drei Treffern
beteiligt war. Das Team von Bundestrainer Joachim Löw schmiss den EM-Rucksack, bis an den Rand gefüllt mit externem Druck und eigenen Erwartungen, im hohen Bogen von sich. Gegen Frankreich lief man wie gegen eine Mauer, dazu kam die geistige Blockade. Vieles wirkte schwerfällig, nun dürfte sich alles leichter anfühlen. Weil man trotz einer wegen Abseits aberkannten Führung (auch Gosens) und trotz eines Rückstandes durch das vermeidbare Kontertor von Cristiano Ronaldo nicht zu lange zu sehr haderte oder gar verzweifelte, sondern sich selbst aus der Misere herauszog. Doppelt wichtig für die Psyche: Widerstände wurden überwunden. „Es war wichtig für uns, dass wir nach dem verlorenen Spiel gegen Frankreich nicht alles über den Haufen werfen, sondern bei unserer Linie bleiben“, erklärte Kai Havertz, der ein Tor beisteuerte und ein Eigentor erzwang.
Jetzt, da man im DFB-Lager hofft, dank des fünften Sieges im fünften Turnierspiel gegen Lieblingsgegner Portugal die perfekte Welle erwischt zu haben, geht der Blick nach vorne. Das 4:2 soll ein Knotenlöser sein – und ja keine Eintagsfliege. „Man darf so eine kleine Euphorie auch ein bisschen spüren, aber wir müssen auch sachlich bleiben“, betonte Müller, der Emotionen einer Mannschaft so gut deuten kann wie freie Räume und forderte: „Jetzt dürfen wir nicht überdrehen, wir haben die Ungarn gesehen.“Und deren völlig unerwartetes 1:1 gegen Frankreich. Löw betonte, „Schritt für Schritt vorankommen“zu wollen und warnte vor den defensiv eingestellten Ungarn, die selbst noch die Chance aufs Achtelfinale haben: „Das nächste Spiel wird noch zäher, weil sie mit acht, neun Mann verteidigen.“
Dass man ein ganz anderes Gesicht als im Auftaktspiel gezeigt hat und – bis auf die teils haarsträubende Verteidigung von gegnerischen Standardsituationen – der Lerneffekt sichtbar ist, macht diese Mannschaft wieder zu einem der Titelfavoriten. Besser ist doch: Sich steigern können als eine zu frühe Frühform haben. „Diejenigen, die die ersten zwei Spiele perfekt spielen und bei denen alles rund läuft, haben in den seltensten Fällen das Turnier gewinnen können“, meinte Löw und schickte damit freundliche Grüße nach Italien.