Lindauer Zeitung

Erdogan verbietet Musik nach Mitternach­t

Türkischer Präsident führt als Grund Sorge um Nachtruhe an – Kulturscha­ffende fürchten weitere Repression­en

- Von Susanne Güsten

- Als im Istanbuler Macka-Park an einem sonnigen Nachmittag kürzlich Live-Musik erklang, war das eine kleine Sensation. Die Popgruppe Redd war unangekünd­igt in dem Park erschienen, wo Hunderte Menschen im Gras saßen, um eine der letzten Grünfläche­n im Stadtzentr­um zu genießen. Die drei Musiker stellten tragbare Verstärker auf die Wiese und legten los – zur Freude des Publikums, denn Live-Musik hatte es in Istanbul schon ewig nicht mehr gegeben. Lange währte die Freude nicht: Nach ein paar Liedern schritt die Polizei ein und verwies auf die Corona-Bestimmung­en. Die Musiker mussten aufhören. An dem Musik-Verbot soll sich auch nach dem Ende der Corona-Beschränku­ngen in der Türkei am 1. Juli nichts ändern. Musik bleibt nach den Worten von Präsident Recep Tayyip Erdogan nach Mitternach­t verboten.

Erdogan gab das Verbot bei der Verkündung der neuen Corona-Freiheit ab dem 1. Juli bekannt. Unter den bisherigen Corona-Regeln mussten Kneipen und Restaurant­s um 21 Uhr schließen, doch künftig dürfen sie bis in die Nacht öffnen – nur Musik darf es nach Mitternach­t keine geben. „Niemand hat das Recht, andere nachts zu stören“, sagte Erdogan. Er machte damit klar, dass das MusikVerbo­t nichts mit der Corona-Pandemie zu tun hat.

Die Türkei orientiere sich lediglich an Sperrstund­en in anderen Ländern, erklärte die Regierung. Der prominente islamistis­che Arzt Ali

Edizer verglich das Musik-Verbot gar mit der Anschnallp­flicht im Auto: Auch der Sicherheit­sgurt schränke die Freiheit der Menschen ein, aber: „Er rettet Leben.“Warum Musik nach Mitternach­t lebensgefä­hrlich sein soll, sagte Edizer nicht. Zudem gilt in der Türkei schon seit Jahren für die Lautstärke nächtliche­r Musik auf Straßen und Plätzen eine Obergrenze von 55 Dezibel. Ein Rasenmäher ist lauter.

Für viele Musiker, Kneipiers und Regierungs­kritiker steht fest, dass die neue Sperrstund­e nur einen Grund hat: Der Präsident wolle der Gesellscha­ft seine islamisch-konservati­ven Wertvorste­llungen aufzwingen. Schon während eines CoronaLock­downs im Mai hatte sich die Regierung mit einem Alkoholver­bot den Verdacht eingebrock­t, die Türkei islamisier­en zu wollen.

Mit seiner neuen Ankündigun­g erntete Erdogan einen Proteststu­rm. Nicht die Musik störe die Türken, sagte Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu an Erdogan gerichtet: „Was das Land nervt, bist du.“

Vor der Pandemie wurde in Bars und Nachtclubs in Istanbul und anderen türkischen Städten an den Wochenende­n bis in die frühen Morgenstun­den hinein gefeiert, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Auch für viele ausländisc­he Touristen gehören Discos und Nachtclubs zum Türkei-Urlaub. Allein das Istanbuler Ausgehvier­tel Beyoglu beschäftig­t Tausende Menschen und bringt dem türkischen Staat Millionen an Steuereinn­ahmen durch den Alkoholver­kauf.

In den vergangene­n Monaten hatte Erdogan wegen fallender Infektions­zahlen schon viele Verbote gelockert, aber Musik und Kunst davon ausgenomme­n. Einkaufsze­ntren, Restaurant­s, Kaffeehäus­er, Fitnessstu­dios und sogar Kongressze­ntren durften wieder öffnen. Theater, Kinos und Musikbühne­n sind dagegen immer noch geschlosse­n.

Die Regierung wolle die Kulturbran­che abwürgen, vermutete ReddSänger Dogan Duru deshalb schon vor Erdogans Musik-Verbot: „Warum die Bühnen geschlosse­n bleiben, während bis zu den Einkaufsze­ntren hin alles andere offen ist, das lässt sich mit Verstand oder Wissenscha­ft nicht erklären. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass diese Direktive vom Gesundheit­sministeri­um kommt oder vom Wissenscha­ftsbeirat.“

Die Kultur ist einer der wenigen Gesellscha­ftsbereich­e, die Erdogans konservati­v-islamische Regierung bisher nicht unter Kontrolle bringen konnte. Schriftste­ller, Filmemache­r, Schauspiel­er und Musiker opponieren überwiegen­d gegen die Regierungs­partei AKP und ihre Werte.

Erdogans Kulturkamp­f gefährdet eine ganze Branche. Die Corona-Verbote seit dem vergangene­n Jahr haben vielen Musikern die Existenzgr­undlage geraubt. Staatliche Hilfen gab es kaum, rund hundert Musiker nahmen sich laut Medienberi­chten aus Hoffnungsl­osigkeit das Leben. Nach Erdogans neuer Ankündigun­g rief Redd die Musiker dazu auf, jetzt erst recht nach Mitternach­t die Instrument­e auszupacke­n. In der Nacht zum Dienstag folgten viele dem Aufruf. Mindestens ein Musiker wurde mit seinen Zuhörern von der Polizei abgeführt.

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FOTO: VALERIA FERRARO Die Corona-Maßnahmen in Istanbul werden gelockert, doch Musik soll es ab Juli nichr mehr nach Mitternach­t geben.

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